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ist und was Zeitgenossen beinahe einstimmig von ihr ausgesagt haben. Somit wäre nicht zu verkennen, dass man nach Regeln der Wahrscheinlichkeit an ihre Schuld zu glauben hätte. Allein glauben ist nicht wissen, die grösste Wahrscheinlichkeit noch lange nicht eine mit Sicherheit ermittelte historische Wahrheit. Es gibt Probleme, denen gegenüber wir uns mit jener begnügen müssen, weil diese schlechterdings unerreichbar ist und die Bemühung, ein Unergründliches zu fassen, mit Nothwendigkeit zu groben Täuschungen führt. Solch ein Problem ist das vorliegende: es lockt zu tendenziöser Verarbeitung; es spottet exacter Lösung. Die völlige Aufhellung der Streitfrage, die Parteigeist und Hass auf der einen, Entrüstung und Mitleid auf der anderen Seite, mit Absicht oder unbewusst, verwirrt und verdunkelt haben, ist nach Lage der Dinge eine blanke Unmöglichkeit. Denn solch eine Aufhellung müsste schlechterdings darauf hinauslaufen, dass Maria’s Schuld oder Nichtschuld am Gattenmorde bewiesen würde, das heisst, dass nicht eine einzige Thatsache oder Zeugenaussage, die für das Gegentheil des zu Beweisenden spricht, unwiderlegt stehen bliebe. Auf Grund des uns dargebotenen, spröden und widerspruchsvollen Materials ist dies nicht zu leisten und wurde auch nicht geleistet. Es fehlt uns keineswegs an gewissenhaft vorgenommenen Untersuchungen des interessanten Vorgangs; aber zu einem unumstösslich gewonnenen Ergebniss haben sie nicht geführt. Immer wieder bleibt der Eindruck zurück, dass den beigebrachten Beweismitteln sich andere entgegenstellen liessen, welche gleich schwer oder schwerer ins Gewicht fallen und die scheinbar entschiedene Frage neuerdings in den Bereich des Zweifels, der Ungewissheit rücken. Und mit jedem Schritte über diesen Bereich hinaus läuft man Gefahr, ins Gebiet der Legende abzuschwenken vom Boden nüchterner historischer Forschung, auf dem sich als völlig sicher nur herausstellt: dass wir, in Ermanglung fester Anhaltspunkte zur Entscheidung der Schuldfrage, uns damit zufrieden geben müssen, dass Maria Stuart vielleicht Gattenmörderin gewesen ist, vielleicht auch – nicht.



Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Deutsche Zeitschrift für Geschichtswissenschaft. Freiburg i. Br.: Akademische Verlagsbuchhandlung von J. C. B. Mohr, 1889, Seite 60. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_DZfG_1889_01_060.jpg&oldid=- (Version vom 8.11.2022)