Seite:De Chemische Briefe Justus von Liebig 450.jpg

Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.


so wie das Wort Phlogiston verbraucht ist, mit welchem man bis zu Ende des vorigen Jahrhunderts die chemischen Erscheinungen erklärte.

So lange man nicht wusste, was das Phlogiston war, diente dieses Wort als Sammelwort, um eine Anzahl unbekannter wirkender Ursachen zusammen zu binden und in der Lehre sich verständlich zu machen; nachdem man aber erfahren hatte, was das „Phlogiston“ eigentlich war und vorstellte, so traten an seine Stelle die richtigen Begriffe, und die Erklärungen wurden jetzt wahr, sicher und zuverlässig, was sie vorher nicht waren. Das Holz brennt deshalb nicht anders wie vorher, und die Luft war früher dabei wie jetzt, auch das Wasser macht noch nass wie sonst, aber welch einen unermesslichen Fortschritt hat das Menschengeschlecht dadurch gemacht, dass an die Stelle des Phlogiston richtige Vorstellungen von der Luft, dem Sauerstoff und dem Verbrennungsprocess getreten sind!

Ein gleicher, aber weit grösserer und unendlich segensreicherer Fortschritt wird sich aus der richtigen Erkenntniss des Ernährungsprocesses der Pflanzen und Thiere entwickeln, und so abgeschmackt es sein würde, wenn ein Lehrer der Chemie irgend einen chemischen Vorgang aus dem Phlogiston erklären wollte, eben so unzulässig ist es, wenn ein Lehrer der wissenschaftlichen Landwirthschaft einen gegebenen Fall mit dem Begriff von „Mist“ erklären will, denn an die Stelle des veralteten Begriffs von Mist, der jetzt keinen Sinn mehr hat, sind für jede Pflanze ganz bestimmte Nahrungsmittel getreten, aus deren Zusammenwirkung die Erscheinung oder der Fall erklärt werden muss.

Die Lehre von der Nothwendigkeit der Misterzeugung durch Futtergewächse und damit die Aufrechthaltung eines Viehstandes für den Feldbau ist eine Irrlehre.

Man muss hierin Nothwendigkeit und Nützlichkeit zu trennen wissen. Der Viehstand kann dem Landwirth nützlich sein und ihm in Butter, Käse, Fleisch eine Rente gewähren; dies ist eine andere Sache, allein er muss wissen und es muss ihm gelehrt werden, dass der Viehstand kein Zwang sein darf.

Für die Misterzeugung ist der Viehstand nothwendig; allein die Misterzeugung ist für die Fruchtbarmachung der Kornfelder nicht nothwendig. In dem System der Wechselwirthschaft ist der Anbau von Futtergewächsen und die Einverleibung ihrer Bestandtheile in die Ackerkrume der Kornfelder allein nothwendig, und es ist für die Halmgewächse vollkommen zwecklos und gleichgültig, ob die Futtergewächse vorher vom Vieh gefressen und in Mist verwandelt werden.

Wenn die Lupinen, Wicken, der Klee, die Rüben etc. zerschnitten und grün untergepflügt werden, so ist ihre Wirkung weit grösser.

Die Kornerzeugung steht in keinem naturgesetzlichen Zusammenhang mit der Fleisch- und Käseerzeugung, sie schaden sich vielmehr gegenseitig und müssen wissenschaftlich auseinander gehalten werden; denn was man im Fleisch verkauft, geht dem Korn ab, und umgekehrt. Wir können weder Fleisch, noch Milch, noch Käse entbehren, und wenn dies der Viehzüchter producirt, der sich wo möglich gar nicht mit dem Kornbau beschäftigt, so werden beide sowohl wie die Verzehrer Vortheil davon

Empfohlene Zitierweise:
Justus von Liebig: Chemische Briefe. Leipzig und Heidelberg 1878, Seite 450. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Chemische_Briefe_Justus_von_Liebig_450.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)