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Steuerlast zu tragen, und wie uns die Geschichte der drei ersten Jahrhunderte unserer Zeitrechnung erzählt, der grauenvollste und entsetzlichste Zustand, in welchen Völker verfallen können, trat ein. Viele andere Ursachen wirkten natürlich zusammen, aber die Erschöpfung der fruchtbaren Felder durch den Raubbau war eine davon.



Neunundvierzigster Brief.


Ich will den Lehrern der Landwirthschaft ein anderes Volk zeigen, welches ohne alle Wissenschaft, von der dieses Volk nichts weiss, den Stein der Weisen gefunden hat, den sie in ihrer Blindheit vergeblich suchen – ein Land, dessen Fruchtbarkeit seit dreitausend Jahren, anstatt abzunehmen, fortwährend gestiegen ist, und in welchem auf einer Quadratmeile mehr Menschen als in Holland oder England leben.

In China (nach allen Berichten älterer und neuester Zeit von Davis, Hedde, Fortune und andern, so wie nach einer Untersuchung, welche der verstorbene Sir Robert Peel auf meinen Wunsch und für meine Zwecke über den chinesischen Ackerbau an Ort und Stelle anstellen liess), weiss man nichts von einer Wiesencultur oder von Futtergewächsen, die wegen des Stallviehes gebaut werden; man weiss nichts von Stallmist, von Hofdünger; ein jedes Feld trägt jährlich zweimal Früchte, und liegt niemals brach.

Der Weizen liefert häufig das 120ste Korn und darüber. (Eckeberg.) Als mittleren Ertrag rechnet man das fünfzehnfache Korn. (Davis.) Alle die Mittel, welche der deutsche Lehrer der Landwirthschaft als ganz unentbehrlich für die Steigerung der Erträge der Felder ansieht und seine Schüler anzuwenden lehrt, sind dem chinesischen Landwirth nicht nur vollkommen entbehrlich, sondern er bringt auch ohne ihre Wirkung Erträge hervor, welche die des intensiven deutschen Landwirths um das doppelte übertreffen.

Es ist ganz richtig, in China bestehen andere Verhältnisse als bei uns, die Chinesen sind zum Theil Buddhisten und essen kein Rindfleisch, wir essen mehr Fleisch, und müssen deswegen auch Futter für die Fleischerzeugung bauen; allein darum handelt es sich nicht, sondern um Grundsätze, welche die Praxis leiten sollen. Unsere Lehrer der modernen Landwirthschaft lehren nicht Futter zu bauen, um Fleisch zu erzeugen, sondern sie lehren, dass man Futter bauen müsse, um Mist zu erzeugen, und in diesem Sinne zeigen sie, dass sie das Wesen des Feldbaues nicht richtig auffassen, und von einem wissenschaftlichen Grundsatz nichts wissen.

In der Feststellung eines wissenschaftlichen Grundsatzes handelt es sich zunächst nicht darum, ob seine Anwendung vortheilhaft sei, sondern ob er wahr sei; denn wenn er wahr ist, so muss er Nutzen bringen.

In der wissenschaftlichen Landwirthschaft existirt kein „Mist“ mehr, denn die Begriffe, die sich an dieses Wort knüpfen, sind verbraucht,

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Justus von Liebig: Chemische Briefe. Leipzig und Heidelberg 1878, Seite 449. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Chemische_Briefe_Justus_von_Liebig_449.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)