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in Ketten gelegt. Welche Anmassung von der Wissenschaft, uns erfahrungsreiche praktische Männer für blind zu halten und uns den Staar stechen zu wollen! Wie können Leute, welche nicht einmal wissen, ob im März oder im April die Kartoffeln gelegt werden müssen, uns belehren wollen, welche Beschaffenheit ein gutes Kartoffelland haben müsse, oder was die Brache sei? Diese wissenschaftlichen Erklärungen entbehren der Erfahrung, wir können sie uns selbst und viel besser machen. Wer dem Stallmist seine Würde nehmen wolle, verdiene den Scheiterhaufen!

Die Landwirthe hatten das Vermögen noch nicht erworben Meinungen von richtigen Thatsachen zu unterscheiden; jede Thatsache war ihnen recht, jede Meinung erhielt ihren Platz. Wenn die Wissenschaft die Wahrheit einer ihrer Erklärungen bezweifelte, so glaubten sie, sie habe die Existenz der Thatsachen bestritten; wenn die erstere sagte, der grösste Fortschritt sei den Stalldünger durch seine wirksamen Bestandtheile zu ersetzen, so glaubten sie, die Wissenschaft habe dessen Wirksamkeit geleugnet.

Um Missverständnisse dieser Art erhob sich nun der Streit; der praktische Mann verstand die wissenschaftlichen Schlussfolgerungen noch nicht; sein Streit war mit dem Popanz seiner eignen falschen Auffassung, nicht mit der Wissenschaft; er wusste nicht, dass auch die Wissenschaft eine eigene Moral hat, deren Grundlage die Schule und die Erziehung ist, die Schule durch die Lehre und die Erziehung durch deren Uebung. Als Bildungsmittel des Geistes war ihnen das Studium der Naturwissenschaften völlig fremd geblieben, und darum das gegenseitige Verstehen so schwer. Wenn sie sich nur ein wenig damit vertraut gemacht hätten, so hätten sie alles von selbst gelernt, was jetzt so viel Mühe kostet ihnen verständlich und begreiflich zu machen.

In der Physik und Chemie bestehen Streitigkeiten dieser Art nicht mehr, obwohl beide einst und vor gar nicht langer Zeit auf dem nämlichen Standpunkt sich befanden, den die Landwirthschaft noch zu überwinden hat.

Ein Blick in chemische oder physikalische Zeitschriften muss die Landwirthe in das grösste Erstaunen versetzen durch die Fülle von Aufgaben und deren Lösungen, und die unermesslichen Anstrengungen und Arbeiten, die freiwillig, ohne Lohn, dafür aufgewendet werden; jeder Tag bringt einen Fortschritt, und alles ohne Streit; man weiss was eine Thatsache, ein Schluss, eine Regel, ein Gesetz, eine Meinung und eine Erklärung ist; für alles dies hat man Probirsteine, die jeder erst gebraucht, ehe er die Früchte seiner Arbeit in Circulation setzt. Emsig sucht die Mehrzahl verborgene Thatsachen an’s Licht zu bringen, welche sogleich von andern der Probe unterworfen werden, und, wenn sie ächt sind, ihren geeigneten Platz erhalten. Der eine hat das Talent die Merkmale der Aehnlichkeit zweier Thatsachen aufzufinden, ein anderer ein scharfes Auge für ihre Verschiedenheiten, und so hilft einer dem andern ihre richtige Erklärung zu finden; die advocatorische Durchführung einer Ansicht ohne schlagende beweisende Thatsachen, oder die Absicht einem andern etwas Unbewiesenes glauben zu machen, scheitern augenblicklich an der wissenschaftlichen Moral; der gute Wille des Verständnisses ist immer da.

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Justus von Liebig: Chemische Briefe. Leipzig und Heidelberg 1878, Seite 344. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Chemische_Briefe_Justus_von_Liebig_344.jpg&oldid=- (Version vom 17.8.2016)