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Das praktisch-landwirthschaftliche Lehrsystem war eine Sammlung von verschiedenartigen auf die bekannten Fälle passenden Recepten, eine Olla potrita von Thatsachen, die Theorie war die Brühe dazu.

Der angehende Landwirth wurde zum praktischen Landwirth, und erlangte Ruhm und Ehre ähnlich wie der sogenannte grüne Doctor zu Offenbach am Main, dessen Andenken bei den älteren Bewohnern dieser Stadt vielleicht noch nicht erloschen ist. Er war ein jüdischer Arzt von Ruf, der bei allen lebensgefährlichen Fällen nach Frankfurt, Hanau und in die Umgegend berufen wurde – häufig mit Erfolg. Die Natur hatte ihm einen scharfen Blick und eine feine Beobachtungsgabe verliehen, und seine Weisheit stammte aus einem Hospital, in welchem er Krankenwärter war; er pflegte den ordinirenden Arzt auf seinem Gang durch die Krankensäle zu begleiten, besah nach ihm die Zunge, den Harn und befühlte den Puls der Kranken; er besorgte die Befehle des Arztes wegen der Diät, wie viel und was der Kranke essen sollte, und schrieb sich regelmässig die Recepte ab; wenn eins half, so machte er ein rothes, wenn der Kranke starb, ein schwarzes Kreuz darauf; nach und nach wuchsen die Blätter zu einem Buch an und als nichts neues mehr dazu kam, so begann er, zuerst im Kleinen, dann im Grossen zu prakticiren; in der Diagnose war er geübt, für die vorkommenden Fälle hatte er seine Recepte, die mit den rothen Kreuzen kamen zuerst, wenn sie nicht halfen die schwarzen daran; daraus entsprangen dann seine eigenen Erfahrungen. Er war sehr orthodox, am Schabbestag schrieb er keine Recepte; er ging dann in die Apotheke und dictirte sie dem Gehülfen. „Rrrrr,“ so fing er an, dies hiess Recipe; Tartemet zwei Grän, dies hiess Tartari emetici grana duo; Syralth, dies hiess syrupus althaeae; er konnte seine eigenen Recepte nicht lesen, aber er war ein berühmter praktischer Arzt von so bewährtem Ruf, dass es den damaligen studirten Aerzten in Offenbach nicht gelang ihm die Praxis zu verbieten, weil er nicht studirt habe.

In ähnlicher Weise bildet man sich noch heute für die landwirthschaftliche Praxis aus; die angehenden jungen Landwirthe werden Krankenwärter in einem landwirthschaftlichen Hospital, sie schreiben sich die Recepte ab, und beim Uebergang in die Praxis giebt ihnen der wohlwollende Director die Substanz zweier dem ersten Studium aller Hülfswissenschaften gewidmeten Jahre in einem Spruch mit auf den Weg: „Mist, Guano und Knochenmehl, meine Herren, vergessen Sie dies nicht, sind und bleiben die Seele der Landwirthschaft“[1]. Sie wussten dies wohl, man hatte sie überzeugt, dass auf die Chemie und Physik kein Verlass sei, dass Essen und Trinken Leib und Seele zusammenhalten, und dass Bier, Brod und Braten die Seele des Handwerksburschen sei.

Unter diesen Verhältnissen wird sich Niemand darüber wundern, dass die wahre Wissenschaft sechzehn Jahre lang und noch länger in der Landwirthschaft zur Entwickelung keinen Boden fand; die strengsten inductiven Schlüsse wurden für Hypothesen gehalten, denn zu allen Zeiten, wo die Lüge auf dem Thron sass, wurde die Wahrheit als Lüge

  1. Siehe G. Walz Beleuchtung. S. 128.
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Justus von Liebig: Chemische Briefe. Leipzig und Heidelberg 1878, Seite 343. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Chemische_Briefe_Justus_von_Liebig_343.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)