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so viel wussten wie der Student, welcher um eine Flüssigkeit zu destilliren, es für genügend hielt sie in die Sonne zu stellen, oder der andere, der in einem chemischen Laboratorium den Assistenten um ein Reibeisen ansprach, um ein Mineral zu pulverisiren.

Zu ihren Erklärungen gelangten sie auf die einfachste Weise von der Welt. Wenn z. B. zwischen zwei Thatsachen, zwischen Wasser und Wachsen, ein bestimmter Zusammenhang unverkennbar war, wenn die Wiese z. B. nach dem Bewässern an Pflanzenmasse mehr und schneller zunahm als ohne Bewässerung, so stellte die Afterwissenschaft die Verbindung beider, des Wässerns mit dem Graswuchs, durch die Einbildungskraft her.

Den Grund der Wirkung kannte man nicht; man sah aber die Wirkung, und diese musste eine Ursache haben.

Der Erklärer begann damit dem gutmüthigen wissensdurstigen Landwirth einen chemischen Hokuspokus mit Analysen vorzumachen, und wenn dessen gesunder Menschenverstand durch bedeutungslose Zahlen und Rechnungen gehörig verdreht war, so liess er die vorher gedachte Erklärung gleich einem schönen runden und fetten Mäuschen aus dem Aermel herausspazieren.

Nicht immer war zwischen zwei Thatsachen ein so handgreiflicher Zusammenhang wie zwischen Wässern und Graswuchs vorhanden, aber man wusste sich immer zu helfen.

Die Verbindung zweier solcher Thatsachen, z. B. der Erschöpfung des Bodens in der Cultur der Halmfrüchte mit dem Reifen des Korns, stellte der Erklärer her, indem er etwas Leim, sogenannten Erfahrungsleim, dazwischen schmierte. Man hatte vorzüglich zweierlei Sorten Leim, „Knochenleim“ und „Ammoniakleim“ oder „Stickstoffleim“. Von letzterem bestand in England eine grosse Fabrik, berühmt durch die Devise „Praxis mit Wissenschaft“, welche den Bedarf der Deutschen befriedigte. Die Ausdrücke: „die Theorie ist aus dem Leim gegangen“ und ähnliche stammen vielleicht davon her.

Zwischen zwei Punkten ist bekanntlich nur eine gerade Linie möglich; es giebt aber billionenmal Billionen krumme, durch die sie verbunden werden können; so giebt es denn tausend Hypothesen zur Erklärung des Zusammenhangs zweier Thatsachen, aber nur eine einzige richtige Theorie und man wird verstehen, dass man in der Landwirthschaft in der eben beschriebenen Weise niemals auf den geraden Weg zur richtigen Erklärung kommen konnte. Diese Manier wurde dadurch so populär, weil Kenntnisse dazu nicht nöthig waren; jeder Landwirth hatte das Zeug dazu, er kannte die Thatsachen und konnte sich den nöthigen Erfahrungsleim dazu kochen. Da nun aber die Ingredientien zu dem Leim (die individuellen Erfahrungen) bei allen in Qualität und Quantität verschieden waren, so hatte jeder für seine Methoden und Auffassungen seine eigene Theorie.

Im Grunde kam auch wenig auf diese Theorien an, der praktische Mann hielt sich an das Erprobte, und handelte darnach; wenn sein Nachbar etwas erprobt hatte, so ahmte er ihm nach; dies war sein Fortschritt, einen andern kannte er nicht.

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Justus von Liebig: Chemische Briefe. Leipzig und Heidelberg 1878, Seite 342. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Chemische_Briefe_Justus_von_Liebig_342.jpg&oldid=- (Version vom 18.8.2016)