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und der Entwickelung aller Korngewächse und ihrer Varietäten, aller Rübengewächse, aller Knollengewächse und so fort – Ausdrücke, welche in ihrem Zusammenhang jetzt den Namen Theorie empfangen.

Ein jeder, auch der beschränkteste Verstand, muss einsehen, dass in diesem Verfahren nichts Hypothetisches ist. Nur darin, dass Gedanken dabei sind, unterscheidet es sich von dem Verfahren der Experimentirkunst, und da die Gedanken eine ganz bestimmte Richtung haben, so hat die Verfahrungsweise selbst einen besondern Namen, den der „exacten Methode“ erhalten.

Diese Methode, welche das Alterthum weder kannte noch übte, hat seit ihrer Einführung die Welt umgestaltet; sie ist es, welche der modernen Zeit ihren Charakter verleiht. Die Griechen und Römer besassen in den Wissenschaften des Geistes und den schönen Künsten was wir besitzen, aber die Naturwissenschaften waren ihnen fremd, welche die Kinder dieser Methode sind; ihr verdanken wir die Millionen williger, fleissiger Sklaven, deren Arbeit keinen Schweiss, keine Seufzer, keine Thränen kostet; sie hat für Deutschland allein 7 bis 800,000 Pferde geschaffen, welche die Producte der Industrie und des Bodens aus fernen Ländern holen und überall hin zur Befriedigung der Bedürfnisse der Menschen mit der Schnelligkeit des Windes und ohne Ermüdung verbreiten; Pferde, welche kein Heu und keinen Hafer fressen, deren Erhaltung, wären sie aus Fleisch und Blut, eben so viel fruchtbares Feld in Anspruch nehmen würde, als zur Erhaltung von 5 bis 6 Millionen Menschen nothwendig ist.

Die Schlüsse, zu denen man nach dieser Methode kommt, sind, wie man einsehen muss, nichts weiter als der geistige Ausdruck für Erfahrungen und Thatsachen, und der praktische Mann darf keine Furcht hegen, zu dem in seinen Augen so verdächtigen Ruhm eines Theoretikers zu gelangen, wenn er diese Methode zur Lösung aller ihm nützlichen Fragen befolgt; so viel ist sicher, dass er keine einzige löst, wenn er diese Methode nicht annimmt. Er muss anfangen nach dem „Warum“ zu fragen, das „Wozu“ ergiebt sich dann von selbst.

Es wäre ein wahres Unrecht verschweigen zu wollen, dass alle Bemühungen der Landwirthschaft seit länger als einem halben Jahrhundert darauf gerichtet gewesen sind, zur Einsicht in die Vorgänge des Feldbaues zu gelangen, die Erscheinungen durch ein geistiges Band zu verbinden und zu erklären, und das Verhältniss der Abhängigkeit der zerstreuten Thatsachen zu ermitteln.

Es ist der Landwirthschaft ganz unmöglich gewesen, von den ausserordentlichen Erfolgen und Fortschritten, welche alle andern Gewerbe gemacht haben, deren Betrieb auf der Wirkung von Naturkräften beruht, unberührt zu bleiben, und auch die Quelle derselben, die Naturwissenschaften, wurde nicht verkannt.

Weise und einsichtsvolle Fürsten errichteten Schulen und Akademien, deren Hauptaufgabe es war, den Uebergang der naturwissenschaftlichen Lehren und Wahrheiten in die Landwirthschaft zu vermitteln, die besten Methoden der Cultur zu erforschen und in weiteren Kreisen zu verbreiten.

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Justus von Liebig: Chemische Briefe. Leipzig und Heidelberg 1878, Seite 340. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Chemische_Briefe_Justus_von_Liebig_340.jpg&oldid=- (Version vom 17.8.2016)