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herzustellen; dem Boden sucht sie hohe Erträge durch diese oder jene Pflanze, Dung oder andere Mittel abzugewinnen.

Für alle Zwecke, welche durch die Experimentirkunst erreichbar sind, können Ideen nicht entbehrt werden, allein es ist für sie ganz gleichgültig, ob diese Ideen richtig sind oder nicht; denn da man ein Ding sucht, ohne den Weg zu kennen, so ist jeder der rechte, und wenn Tausende in gleicher Absicht Tausende von verschiedenen Richtungen einschlagen, so wird in der Regel etwas gefunden, nicht gerade das, was man gesucht hat, aber immer etwas, das gebraucht werden kann. In dieser Weise vervollkommnet sich das Gewerbe, und es ist beinahe unglaublich, was in dieser Weise geleistet werden kann und geleistet worden ist.

Den Zusammenhang zwischen zwei Thatsachen, zwischen Boden und Düngung, kennt man nur durch eine dritte, z. B. durch den Ernteertrag; für den praktischen Mann, den matter of fact man, besteht kein anderer Verband.

Die Ausübung des Gewerbes setzt ebenfalls keine Geistesarbeit voraus, die Bekanntschaft mit den Thatsachen und ihres äussern sinnlich wahrnehmbaren Zusammenhangs reicht dazu aus. Der Bäcker weiss von dem Mehl nichts, nichts von dem Sauerteig, nichts von dem Einfluss der Gährung und Hitze; der Seifensieder weiss nicht was Lauge, nicht was Fett und was Seife ist, beide wissen aber, wenn sie dies oder jenes thun, dass Brod oder dass Seife entsteht. Ist ihre Waare schön, so heisst sie gerathen.

In ähnlicher Weise wusste vor wenig Jahren der Landwirth von allem dem, womit er täglich umgeht, so gut wie nichts: nichts von Boden, von der Luft, von der Wirkung des Pflügens oder vom Dünger.

Alle Bestrebungen des Gewerbtreibenden beziehen sich, wie sich von selbst versteht, auf den Erwerb; auf die Vermehrung seines Einkommens sind alle Verbesserungen gerichtet.

Darum betrachtet es der Bäcker als die höchste Kunst, aus schlechtem und grauem Mehl ein weisses und schweres Brod zu backen, der Seifensieder aus schlechtem Fett eine schön aussehende Seife zu bereiten, und das Ziel des praktischen Landwirths ist, mit dem geringsten Aufwand an Kraft und Dünger auf dem schlechtesten Feld die reichlichsten Erträge an Nahrungsstoffen zu ernten. In diesem Ziele verkörpert sich der kümmerliche Grundsatz der kleinen Fabrikation.

Alle Fortschritte eines Gewerbes auf dem Erfahrungsweg und auch die der praktischen Landwirthschaft sind zuletzt beschränkt. Jeder Erfahrungsweg hat ein Ende, wenn die Sinne zur Wahrnehmung nicht mehr ausreichen, wenn kein neuer Gegenstand für die sinnliche Wahrnehmung sich mehr darbietet, wenn Alles versucht und die an die Versuche sich knüpfenden Thatsachen in das Handwerk aufgenommen sind.

Ein weiterer Fortschritt ist erst dann wieder gegeben, wenn verborgene Thatsachen aufgesucht, die Sinne zu ihrer Wahrnehmung geschärft, und die Mittel zu ihrer Aufsuchung verbessert werden; dies ist ohne Nachdenken, ohne dass der menschliche Geist seinen Theil dabei einsetzt, nicht möglich.

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Justus von Liebig: Chemische Briefe. Leipzig und Heidelberg 1878, Seite 337. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Chemische_Briefe_Justus_von_Liebig_337.jpg&oldid=- (Version vom 17.8.2016)