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Siebenunddreissigster Brief.


Der gegenwärtige Streit zwischen der praktischen Landwirthschaft und der wissenschaftlichen Chemie, welcher von einer Seite, zum Vortheil vielleicht für die Sache, mit einiger Erbitterung und Leidenschaft geführt wird, durfte mit allem Recht die Aufmerksamkeit erleuchteter Staatsmänner erwecken, denn er bewegt sich um die wichtigsten materiellen Güter und um die Grundsäulen des Staats. Die zwingendsten Aufgaben der Zeit handeln über die besten Mittel und Wege, welche eingeschlagen werden müssen, um auf einer gegebenen Bodenfläche mehr Brod und Fleisch zu erzeugen, und damit die Bedürfnisse der auf dieser Fläche stets zunehmenden Bevölkerung zu befriedigen; die wichtigsten socialen Fragen knüpfen sich an diese Aufgaben, deren Lösung von der Wissenschaft erwartet wird.

Die Wissenschaft hat in ihrer Weise die nöthigen Vorarbeiten in Angriff genommen, aber diese Weise gefällt den Praktikern nicht. In Allem was sie gethan, hat sie bei der Praxis nur Widerstand und keine Unterstützung gefunden.

Die Wissenschaft hat den Boden für das neue Haus geebnet, welches Raum und Schutz für Alle, die noch hinein wollen, darbieten soll; sie hat ihn entwässert, und Pfähle in den Sumpf gerammt, um sein Fundament fest und sicher für alle Zukunft zu machen; sie hat die besten Steine für den Bau bezeichnet, und gezeigt, dass sie sich nicht überall finden, dass aber der Mörtel überall vorhanden, und sie hat zuletzt den Plan zum Haus gemacht; aber keiner von all den Maurern und Zimmerleuten, ohne deren Mitwirkung der Bau nicht zu Stande kommen kann, hat nur die Hand zur Hülfe bewegt. Die Erfahrung, so sagen sie, sei seit Jahrhunderten ihre Führerin gewesen, und müsse es für alle Zukunft bleiben; keine Vorstellung, die ihren Vorstellungen widerspräche, welche auf diese Erfahrungen fussen, sei zulässig und möglich für sie. Was man seit Menschengedenken für wahr gehalten hat, müsse wahr sein. Der neue Plan widerspreche ihrem Plan, welcher der beste sei: auf das Entwässern des Sumpfes und das Einrammen der Pfähle komme es nicht an, auch auf die Steine nicht, die seien überall, nur an Mörtel sei Mangel, davon hänge Alles ab.

Die Landwirthschaft, wie alle technischen Gewerbe, ist auf dem Wege der Erfahrung, auf dem der sinnlichen Wahrnehmung von Erscheinungen und Thatsachen entstanden, und konnte durch die Experimentirkunst eine gewisse Stufe der Vollkommenheit erreichen. Die sinnliche Wahrnehmung giebt einen gewissen Zusammenhang zwischen der Beschaffenheit des Bodens und seiner Fruchtbarkeit zu erkennen; wenn er eine gewisse Lockerheit und eine schwarze Farbe besitzt, so liefert er häufig z. B. hohe Weizenernten; aber nicht alle Bodenarten sind locker, nicht alle sind schwarz; die Experimentirkunst sucht nur Mittel auf, um die dichten Bodenarten locker zu machen, und den nicht schwarzen Bodenarten die Beschaffenheit des schwarzen zu geben, sie sucht für einen gewissen Zweck zwischen zwei Thatsachen eine vorübergehende oder dauernde Verbindung

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Justus von Liebig: Chemische Briefe. Leipzig und Heidelberg 1878, Seite 336. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Chemische_Briefe_Justus_von_Liebig_336.jpg&oldid=- (Version vom 18.8.2016)