Seite:De Chemische Briefe Justus von Liebig 320.jpg

Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.


täglich in der Form von flüssigen und festen Excrementen den Flüssen zugeführt werden. Wir sahen für die an phosphorsauren Salzen so erschöpften englischen Felder den merkwürdigen Fall eintreten, dass die Einfuhr von Knochen (des phosphorsauren Kalkes) von dem Continent den Ertrag derselben wie durch einen Zauber um’s Doppelte erhöhte! Die Ausfuhr dieser Knochen muss aber, wenn sie in dem nämlichen Maassstabe fortdauern sollte, nach und nach den deutschen Boden erschöpfen; der Verlust ist um so grösser, da ein einziges Pfund Knochen so viel Phosphorsäure wie ein ganzer Centner Getreide enthält.

Die unvollkommene Kenntniss von der Natur und den Eigenschaften der Materie gab in der alchemistischen Periode zu der Meinung Veranlassung, dass die Metalle, das Gold, sich aus einem Samen entwickeln. Man sah in den Krystallen und ihren Verästelungen die Blätter und Zweige der Metallpflanze und alle Bestrebungen gingen dahin, den Samen und die zu seiner Entwickelung geeignete Erde zu finden. Ohne einem gewöhnlichen Pflanzensamen scheinbar etwas zu geben, sah man ihn ja zu einem Halm, zu einem Stamme sich entwickeln, welcher Blüthen und wieder Samen trug; hatte man den Metallsamen, so durfte man ähnliche Hoffnungen hegen.

Diese Vorstellungen konnte nur eine Zeit gebären, in der man von der Atmosphäre so gut wie nichts wusste, wo man von dem Antheil, den die Erde, den die Luft an den Lebensprocessen in der Pflanze und den Thieren nimmt, keine Ahnung hatte. Die heutige Chemie stellt die Elemente des Wassers dar, sie setzt dieses Wasser mit allen seinen Eigenschaften aus diesen Elementen zusammen, aber sie kann diese Elemente nicht schaffen, sie kann sie nur aus dem Wasser gewinnen. Das neugebildete künstliche Wasser ist früher Wasser gewesen. Viele unserer Landwirthe gleichen den alten Alchemisten: wie diese dem Stein der Weisen, so streben sie dem wunderbaren Samen nach, der ohne weitere Zufuhr von Nahrung auf ihrem Boden, der kaum reich genug für die einheimisch gewordenen Pflanzen ist, hundertfältig tragen soll!

Die seit Jahrhunderten, seit Jahrtausenden gemachten Erfahrungen sind nicht im Stande, sie vor immer neuen Täuschungen zu bewahren; die Kraft des Widerstandes gegen solchen Aberglauben kann nur die Kenntniss wahrer wissenschaftlicher Principien gewähren.

In der ersten Zeit der Philosophie der Natur war es das Wasser allein, aus dem sich das Organische entwickelte, dann war es das Wasser und gewisse Bestandtheile der Luft, und jetzt wissen wir, dass noch andere Hauptbedingungen von der Erde geliefert werden müssen, wenn die Pflanze das Vermögen sich zu vervielfältigen erlangen soll.

Die Menge der in der Atmosphäre enthaltenen Nahrungsstoffe der Pflanzen ist begrenzt; allein sie muss vollkommen ausreichend sein, um die ganze Erdrinde mit einer reichen Vegetation zu bedecken.

Beobachten wir, dass unter den Tropen und in den Gegenden der Erde, wo sich die allgemeinsten Bedingungen der Fruchtbarkeit, Feuchtigkeit, ein geeigneter Boden, Luft und eine höhere Temperatur vereinigen, dass dort die Vegetation kaum durch den Raum begrenzt ist, dass da, wo der Boden zur Befestigung fehlt, die absterbende Pflanze, ihre Rinde und Zweige selbst zum Boden werden. Es ist klar, dass es den Pflanzen

Empfohlene Zitierweise:
Justus von Liebig: Chemische Briefe. Leipzig und Heidelberg 1878, Seite 320. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Chemische_Briefe_Justus_von_Liebig_320.jpg&oldid=- (Version vom 17.8.2016)