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Die Summe von Licht- und Wärmestrahlen, welche die Erde von der Sonne empfängt, ist eine unveränderliche Grösse, aber sie vertheilt sich auf ihrer Oberfläche in Folge von Ursachen, welche man providentielle nennen muss, in ungleicher Weise, daher denn an dem einen Ort ein Ueberschuss, welcher die Production der Lebensbedingungen erhöht, an dem andern ein Mangel, durch welchen sie herabsinkt; sind die Canäle zum Ab- und Zufluss da, so stellt sich von selbst das Gleichgewicht ein; nirgends ein Ueberfluss, nirgends ein Mangel.

In gleicher Weise vertheilt sich auf der Erde der Reichthum und sein Schatten, die Armuth; zu allen Zeiten war das gegenseitige Verhältniss derselben gleich und unveränderlich; einer dauernden Zunahme im Besitz treten Ereignisse entgegen welche ihr eine Grenze setzen. So wie sich das Blut von den grossen Stämmen aus nach den Capillarien hin bewegt, so wird das grösste Einkommen verbraucht und fliesst durch eine unendliche Anzahl von kleineren Canälen der ursprünglichen Quelle wieder zu.

Wo das Licht stark ist, erscheinen die Schatten dunkler; aber die Natur will es, dass in allen Abstufungen des Lichtes kräftige Pflanzen gedeihen; ohne die hohen Bäume giebt es kein Gesträuch, kein Getreide und keine Feldfrüchte; denn sie ziehen den befruchtenden Regen an und machen, dass immer die Quellen fliessen, welche Gedeihen und Wohlstand verbreiten. Die neueren socialistischen Theorien wollen, dass kein Schatten mehr sei; wenn aber das letzte Grashälmchen, welches Schatten wirft, zerstört wäre, dann würde freilich überall Licht, aber auch Tod wie in der Wüste Sahara sein.

Durch die in seinem Leibe erzeugbaren Kräfte setzt der Mensch den Naturkräften, die seine Existenz unaufhörlich zu vernichten streben, einen Widerstand entgegen, welcher täglich erneuert werden muss, wenn sein Fortbestehen auf eine Zeit lang gesichert werden soll.

In jeder Stunde stirbt ein Theil unseres Körpers ab, und auch im Zustand der vollkommenen Gesundheit verfällt die Maschine nach 70 bis 80 Jahren den irdischen Mächten, aller Widerstand hört völlig auf, ihre Elemente kehren in die Atmosphäre, in den Boden zurück. Das ganze Leben ist ein unaufhörliches Ringen mit den Naturkräften, eine ewige Störung und Wiederherstellung eines Gleichgewichtszustandes.

Als Speise und Trank bedarf der Mensch der Mittel zur Wärme- und Krafterzeugung; durch sie erzeugt sich in seinem Leibe der Widerstand gegen die Einwirkung der Atmosphäre, welche täglich einen Theil seines Leibes in sich aufnimmt.

Zur Bewahrung seiner Temperatur und zum Schutz gegen Witterung bedarf er der Wohnung, der Kleidung und Heizung; zur Erhaltung der Gesundheit und ihrer Wiederherstellung die Mittel zur Reinlichkeit und Arznei; Speise und Trank können bis zu einer gewissen Grenze

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Justus von Liebig: Chemische Briefe. Leipzig und Heidelberg 1878, Seite 314. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Chemische_Briefe_Justus_von_Liebig_314.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)