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und keinen Kaffee hätten, der Volksinstinct nicht Mittel aufsuchen und finden würde, um sie zu ersetzen. Die Wissenschaft, welche uns in diesen Beziehungen so Vieles schuldet, wird erst zu erforschen haben, ob es blos auf sündlichen Neigungen beruht, dass jedes Volk der Erde sich ein solches auf das Nervenleben einwirkendes Mittel angeeignet hat, von dem Ufer des stillen Oceans an, wo sich der Indianer viele Tage lang aus dem Leben zurückzieht, um das Glück des Kokarausches zu geniessen, bis zu den arktischen Regionen, wo sich Kamtschadalen und Koriaken aus dem giftigen Fliegenschwamm einen Trank der Aufregung bereiten.

Wir halten es im Gegentheil für höchst wahrscheinlich, um nicht zu sagen gewiss, dass der Instinct der Menschen, in dem Gefühl gewisser Lücken oder gewisser Bedürfnisse des gesteigerten Lebens in unserer Zeit, welche durch Quantität nicht befriedigt werden können, eben in diesen Erzeugnissen des Pflanzenlebens das wahre Mittel aufgefunden hat, um seiner täglichen Nahrung die erforderliche und vermisste Beschaffenheit zu geben.

Eine jede Substanz, in so fern sie Antheil an den Lebensprocessen nimmt, wirkt in einer gewissen Weise auf unser Nervensystem, auf die sinnlichen Neigungen und den Willen des Menschen ein.

Macaulay, der grosse Forscher in dem Gebiete der Geschichte, hat zwar in seinem classischen Werke dem Einfluss der Kaffeehäuser auf den politischen Zustand Englands im 17. Jahrhundert verdiente Berücksichtigung geschenkt, aber der Antheil, den die Bestandtheile des Kaffee’s auf die Geistesrichtung damals hatten, dies ist ein Problem, welches noch zu lösen ist.

Was wir von den physiologischen Wirkungen dieser Getränke wissen, ist nicht des Erwähnens werth; gewöhnlich knüpft man sie an das Vorhandensein des Theïns (identisch mit Caffeïn im Kaffee und im Maté oder Paraguay-Thee), und dies vielleicht mit Recht; es giebt keine Getränke, welche in ihrer Zusammengesetztheit und in gewissen Bestandtheilen mehr Aehnlichkeit mit Fleischbrühe haben als Thee und Kaffee, und es ist sehr wahrscheinlich, dass ihr Gebrauch als Bestandtheil der Nahrung auf der erregenden und belebenden Wirkung beruht, welche diese Getränke mit der Fleischbrühe gemein haben.

Wenn man gewöhnliche Theeblätter in einem Uhrglase mit Papier leicht bedeckt, auf einem heissen Bleche bis zur Bräunung allmählich erhitzt, so sieht man lange weisse glänzende Krystalle sich an das Papier und die Theeblätter anlegen; dies ist das Theïn.

Seinen Eigenschaften nach gehört das Theïn zu der Classe der organischen Basen, welche alle ohne Ausnahme eine Wirkung auf das Nervensystem ausüben. Nach ihren Wirkungen in eine Reihe geordnet, welche mit dem Theïn beginnt, wirken die Endglieder derselben, das Strychnin, Brucin, als die furchtbarsten Gifte, das Chinin, mehr in der Mitte stehend, als die geschätzteste Arznei; die Bestandtheile des Opiums haben in gewissen Gaben arzneiliche, in grösseren Gaben giftige Wirkungen. Die giftig und arzneilich wirkenden Pflanzenbasen enthalten auf 1 Aequivalent Stickstoff mehr als 8 Aequivalente Kohlenstoff. Theïn und Caffeïn und die ihnen ähnlichen Stoffe, welche ohne

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Justus von Liebig: Chemische Briefe. Leipzig und Heidelberg 1878, Seite 309. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Chemische_Briefe_Justus_von_Liebig_309.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)