Seite:De Chemische Briefe Justus von Liebig 304.jpg

Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.


Preis des Brodes um den Unterschied des Preises der Kleie (als Viehfutter) und des Mehls erniedrigt werden kann. Als Zusatz zum Mehl hat die Kleie in Zeiten des Mangels einen weit höheren Werth und ist durch keinen anderen Nahrungsstoff ersetzbar. Die Absonderung der Kleie vom Mehl ist eine Sache des Luxus, und für den Ernährungszweck eher schädlich als nützlich. Im Alterthum, bis zur Kaiserzeit, kannte man kein gebeuteltes Mehl. In Deutschland wird in vielen Gegenden, namentlich in Westphalen, die Kleie mit dem Mehle zu dem sogenannten Pumpernickel verbacken, und es giebt kein Land, in welchem die Verdauungswerkzeuge der Menschen sich in besserem Zustande befinden. Die Grenzen des Niederrheins und Westphalens lassen sich an der ganz besonderen Grösse der Ueberreste genossener Mahlzeiten erkennen, welche Vorübergehende an Hecken und Zäunen hinterlassen, und es sind diese ausgezeichneten Documente des Verdauungswerthes, welche den Aerzten in England vielleicht die Idee eingeflösst haben, den englischen Grossen Brod aus ungebeuteltem Mehl zu empfehlen, welches in vielen Häusern einen Bestandtheil des Frühstückes ausmacht.

Unter allen Künsten der Menschen giebt es keine, die sich einer richtigeren Beurtheilung erfreut und deren Producte allgemeinere Anerkennung geniessen, als die, welche sich mit der Zubereitung der Speisen beschäftigt. Geleitet durch den beinahe zum Bewusstsein gelangten Instinct, den wegekundigen Führer, und durch den Geschmack, den Wächter der Gesundheit, ist der erfahrene Koch in Beziehung auf die Wahl, Zusammenstellung und Zubereitung der Speisen und ihre Aufeinanderfolge zu Errungenschaften gelangt, welche Alles übertreffen, was Chemie und Physiologie in Beziehung auf die Ernährungslehre geleistet haben. In der Suppe und den Fleischsaucen ahmt er den Magensaft nach, und in dem Käse, womit er die Mahlzeit schliesst, unterstützt er die Wirkung des auflösenden Magen-Epitheliums. Die mit Speisen besetzte Tafel erscheint dem Beobachter gleich einer Maschine, deren Theile harmonisch zusammengefügt und so geordnet sind, dass damit, wenn sie in Thätigkeit gesetzt sind, ein Maximum von Wirkung hervorgebracht werde könnte; der geschickte Kochkünstler begleitet die blutbildenden mit denjenigen Stoffen, welche den Process der Auflösung und Bluterzeugung vermitteln, in dem richtigen Verhältniss; er vermeidet alle Arten von unnöthigen Reizen, die nicht selbst wieder ausgleichend wirken, er sorgt für das Kind, den Greis und für beide Geschlechter.

Gleich naturgesetzlich wählt die verständige und erfahrene Mutter oder Wärterin die Speisen für das Kind; sie gestattet ihm Milch und Mehlspeisen und begleitet letztere stets mit Obst; das Fleisch von ausgewachsenen Thieren, welches reich ist an Knochenerde (phosphorsaurem Kalk), zieht sie dem Fleisch von jungen Thieren vor und begleitet es stets mit grünen Gemüsen; sie giebt dem Kinde vorzugsweise die Knochen zum Abnagen[1] und schliesst Kalbfleisch, Fische und Kartoffeln von seiner Nahrung aus; für das reizbare Kind mit schwachen

  1. In der Provinz Oberhessen, in der Umgegend von Giessen bedienen sich die Bauern als eines wirksamen Hausmittels beim Zahnen der Kinder des reinen Kalkwassers, welches die kleinen Wesen kaffeelöffelweise mit Begierde geniessen.
Empfohlene Zitierweise:
Justus von Liebig: Chemische Briefe. Leipzig und Heidelberg 1878, Seite 304. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Chemische_Briefe_Justus_von_Liebig_304.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)