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Fleisch bereitete Fleischbrühe bei einer gewissen Concentration, ähnlich wie alle stark und gewürzhaft schmeckenden Fleischsaucen, zu einer Gallerte gesteht, und man gab sich, ohne eigentlich einen Grund dafür zu haben, der Meinung hin, dass diese am meisten in die Augen fallende Substanz auch die wirksamste und wichtigste und der Hauptbestandtheil der Fleischbrühe sei; so kam es denn nach und nach, dass man die gelatinirende Substanz für die Fleischbrühe selbst nahm, und da die Fabrikanten der Suppentafeln bald wahrnahmen, dass das beste Fleisch nicht die schönsten Tafeln gebe, dass das weisse Fleisch dieselben härter und leichter aufzubewahren machte, und die Sehnen, Füsse, Knorpel, Knochen, Elfenbein und Hirschhorn die schönsten, klarsten, durchsichtigsten Gallerttafeln lieferten, die man wohlfeil gewann und zu hohem Preis verkaufte, da verwandelte der Unverstand und die Liebe zum Gewinn die kostbaren Bestandtheile des Fleisches in Leim, der sich vom gewöhnlichen Tischlerleim nur durch seinen hohen Preis unterschied. Es war kein Wunder, dass dieses Product sich keinen Eingang verschaffen konnte.

Die irrige Ansicht, dass die Leimsubstanz das wirkende Princip in der Fleischbrühe sei, führte in dem Hospitale St. Louis in Paris zu dem Versuch, die ächte, wahre Fleischbrühe zur Hälfte durch Leim, den man aus Knochen durch Kochen bereitet hatte, zu ersetzen; aber von da an wurde die Wirksamkeit der Leimsubstanz Gegenstand der Beobachtung wissenschaftlicher Männer (Donné), und die von ihnen ermittelten Thatsachen führten zu einem Widerstreite der Meinungen, und in Folge desselben zu werthvollen Untersuchungen (worunter die einer Commission der französischen Akademie, an deren Spitze Magendie stand, besonders hervorzuheben sind) über die Ernährungsfähigkeit des Leims und die Ernährung überhaupt, wodurch die früheren Irrthümer berichtigt und eine Menge neuer Thatsachen über den Ernährungswerth vieler animalischer und vegetabilischer Nahrungsmittel festgestellt und gewonnen wurden. Es ist jetzt durch die überzeugendsten Versuche bewiesen, dass die an sich geschmacklose und beim Genusse Ekel erregende Leimsubstanz keinen Ernährungswerth besitzt, dass sie, selbst begleitet von den schmackhaften Bestandtheilen des Fleisches, den Lebensprocess nicht zu unterhalten vermag und als Zusatz zu der gewöhnlichen Lebensordnung den Ernährungswerth der Speisen nicht erhöht, sondern im Gegentheil beeinträchtigt, unzureichend und unvollständig macht; dass ihr Genuss eher schädlich als nützlich ist, weil sie nicht, wie die von der Natur zur Respiration bestimmten stickstofffreien Substanzen, in dem Leibe ohne Rückstand verschwindet, sondern das Blut mit stickstoffhaltigen Producten überladet, deren Gegenwart die organischen Vorgänge stört und hindert.

Wir wissen jetzt, dass die wirksamen Bestandtheile der Fleischbrühe in dem wässerigen Auszug fertig gebildet enthalten und nicht Producte der Küche sind, und dass der Leim der Fleischbrühe erst beim anhaltenden Kochen des Fleisches aus dem Bindegewebe der Muskeln entsteht. Seit dieser Zeit ist man von der Anwendung der Leimsubstanz als Ernährungs- und Stärkungsmittel völlig zurückgekommen, sie hat sich jetzt nur noch in der Form von schleimigen sehr wenig ansprechenden Suppen aus Fischflossen und Schildkrötenfleisch in China und England,

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Justus von Liebig: Chemische Briefe. Leipzig und Heidelberg 1878, Seite 288. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Chemische_Briefe_Justus_von_Liebig_288.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)