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Der Milchzucker und Traubenzucker (der sich aus dem Stärkmehl und Rohrzucker in dem Verdauungsprocess bildet) verschwinden im Blute mit ganz ausserordentlicher Schnelligkeit, so dass es nur in sehr wenigen Fällen gelungen ist, diese Materien im Blute nachzuweisen. In gleicher Weise verschwindet in einem Menschen oder Thiere, dessen Gewicht sich von Tag zu Tag nicht ändert, das täglich genossene Fett.

Wenn der Nahrung der Thiere eine grössere Menge Fett zugesetzt wird, als dem eingeathmeten Sauerstoff entspricht, so häuft sich dieser Ueberschuss in Zellen an, deren Hüllen aus der nämlichen Substanz bestehen, welche den Hauptbestandtheil der Membranen und der Knochen ausmacht. Wenn die Bestandtheile des Blutes oder der Nahrung für diese Zellenbildung nicht ausreichen, so wird die Substanz der Muskeln dazu verbraucht, das Thier gewinnt an Fett und nimmt ab an Fleisch; über diesen Punkt hinaus häuft sich bei den Gänsen z. B. das Fett im Blute an, es tritt Krankheit, zuletzt der Tod ein. (Persoz in Ann. de chim. et de phys. T. XIV, p. 417. N. S.)

Wenn die Thiere in ihrer Nahrung ein grösseres Quantum von plastischen und stickstofffreien (nicht fetten) Nahrungsstoffen geniessen, als zur Unterhaltung ihres Lebens- und Athmungsprocesses erforderlich ist, so häufen sich die plastischen Bestandtheile in der Form von Fleisch und Zellgewebe an, die stickstofffreien (Zucker, Milchzucker etc.) verwandeln sich in Fett.

Diese wichtige Thatsache, dass der aus dem Stärkmehl der Körnerfrüchte, der Kartoffeln, der Samen der Leguminosen in der Verdauung entstehende Zucker bei ausreichendem Material für die Zellenbildung im Leibe der Thiere in Fett übergeführt wird, ist durch die Versuche von Persoz und Boussingault (a. a. O. S. 419) ausser Zweifel gestellt.

Es ist bereits hervorgehoben worden, dass Traubenzucker und Milchzucker eine der Kohlensäure ähnliche Zusammensetzung besitzen; auf ein Aequivalent Kohlenstoff enthält die Kohlensäure zwei Aequivalente Sauerstoff; der Trauben- und Milchzucker enthalten auf dieselbe Menge Kohlenstoff ebenfalls zwei Aequivalente, nämlich ein Aequivalent Sauerstoff, und an der Stelle des zweiten Aequivalents Sauerstoff ein Aequivalent Wasserstoff. Die Ueberführung des Zuckers in Kohlensäure besteht demnach in letzter Form in einer Wasserbildung; der im Athmungsprocess aufgenommene Sauerstoff verbindet sich mit dem Wasserstoff des Zuckers zu Wasser, und wenn der Platz des ausgetretenen Wasserstoffs eingenommen wird von dessen Aequivalent Sauerstoff, so geht der Zucker rückwärts gerade auf in Kohlensäure über. Nach dieser Vorstellung findet in dem lebendigen Körper keine eigentliche Verbrennung des Kohlenstoffs statt, sondern die Kohlensäure wird durch einen sogenannten Substitutionsprocess, in diesem Fall Verwesungsprocess, aus einem an Wasserstoff reichen Körper gebildet, dessen Wasserstoff oxydirt und hinweggenommen und durch ein oder mehrere Aequivalente Sauerstoff ersetzt wird.

Die nächste Bedingung der Fettbildung, oder der Ablagerung der verbrennlichen Elemente der Respirationsmittel im Zellgewebe des Körpers, ist Mangel an Sauerstoff; wäre dessen Menge zureichend gewesen, um den Kohlenstoff und Wasserstoff derselben in Kohlensäure

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Justus von Liebig: Chemische Briefe. Leipzig und Heidelberg 1878, Seite 257. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Chemische_Briefe_Justus_von_Liebig_257.jpg&oldid=- (Version vom 17.8.2016)