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Dies Verfahren der Concentration der plastischen, für die Blut- und Fleischerzeugung bestimmten Nahrungsstoffe reiht sich den zahlreichen Fällen an, in denen die Experimentirkunst der Theorie vorangeeilt ist. Zuerst hatte man in der That nur die Branntweingewinnung im Auge, dann hat man die Rückstände verwerthen wollen, und zuletzt hat man gefunden, dass durch den Maisch- und Gährungsprocess deren Fähigkeit, als Mastfutter zu dienen, zunimmt. Für die Verbreitung dieser Art von Wahrheiten sind die Noth und das Bedürfniss Lehrer, deren Einfluss und Ueberzeugungskraft mächtiger ist als alle Wissenschaft.

Aus dem Vorhergehenden ergiebt sich auf eine zweifellose Weise die Bedeutung der plastischen Nahrungsmittel; indem sie zu Elementen des lebendigen Leibes werden, bedingen sie die Fortdauer aller Lebenserscheinungen.

Wenn wir nun in’s Auge fassen, dass der thierische Körper nicht bloss eine Quelle von Kraft und von vitalen Wirkungen, sondern auch ein Apparat von Wärmeerzeugung ist, dass die in dem Leibe eines erwachsenen Menschen täglich erzeugte Wärmemenge hingereicht haben würde, um in einem Jahre zwanzig- bis fünfundzwanzigtausend Pfund Wasser von dem Gefrierpunkt bis zum Siedepunkte zu erhitzen; wenn wir uns erinnern, dass die animalische Wärme eine Folge der Verbindung des im Athmungsprocess aufgenommenen Sauerstoffs ist, der sich im Leibe mit gewissen Bestandtheilen der Nahrung oder des Körpers verbindet, und die täglich erzeugte Wärmemenge in bestimmtem Verhältniss steht zu der Menge des verbrauchten Sauerstoffs, so giebt die oberflächlichste Beobachtung zu erkennen, dass die Elemente der plastischen Nahrungsstoffe an der Hervorbringung der täglich erzeugten Wärmemenge nur einen sehr untergeordneten Antheil haben konnten.

Vergleichen wir in der That die Menge der täglich verzehrten plastischen Nahrung mit der in derselben Zeit verbrauchten Sauerstoffmenge, so finden wir, dass die verbrennlichen Elemente der ersteren bei weitem nicht hinreichen, um den in das Blut übergegangenen Sauerstoff in Kohlensäure und Wasser zu verwandeln. Der thierische Körper nimmt weit mehr Sauerstoff auf, ein Pferd fünfmal, ein Schwein sechsmal mehr, als zur vollständigsten Verbrennung der plastischen Nahrung erforderlich wäre.

Wenn demnach die brennbaren Elemente der plastischen Nahrungsstoffe zur Wärmeerzeugung dienten, so würde die ganze Menge, welche ein Pferd in dem Heu und Hafer, ein Schwein in den Kartoffeln täglich verzehrt, nur hingereicht haben, um deren Athmungs- und demzufolge Wärmebildungsprocess beim Pferde 4½ Stunden, beim Schweine 4 Stunden täglich zu unterhalten, oder sie würden fünf- bis sechsmal so viel von diesen Nahrungsmitteln geniessen müssen.

Aber selbst in diesem letzteren Falle ist es ausnehmend zweifelhaft, ob die Stoffe ihren Eigenschaften nach unter den Verhältnissen, in denen sie im Organismus dem Sauerstoff dargeboten werden, die dem Leibe nöthige Temperatur hervorgebracht und den Wärmeverlust ersetzt haben würden; denn unter allen organischen Substanzen gehören die plastischen Bestandtheile der Nahrung zu denen, welche die Eigenschaft der Verbrennlichkeit und Wärmeentwickelung im allergeringsten Grade besitzen.

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Justus von Liebig: Chemische Briefe. Leipzig und Heidelberg 1878, Seite 254. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Chemische_Briefe_Justus_von_Liebig_254.jpg&oldid=- (Version vom 17.8.2016)