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Wenn aber die in dem Körper eines Menschen oder Thieres erzeugbaren Wirkungen, welche durch die Werkzeuge seiner Sinne, durch sein Gehirn, oder durch die Organe der willkürlichen und unwillkürlichen Bewegung vermittelt werden, von der Anzahl oder Masse ihrer geformten Theile abhängig sind, so ist einleuchtend, dass die Grösse oder die Dauer dieser Wirkungen im Verhältniss stehen muss zu der Masse der einzelnen Theile, woraus die Organe bestehen; die Wirkungen des Gehirns müssen in Verhältniss stehen zu der Masse des Gehirns, die mechanischen Wirkungen zu der Masse der Muskelsubstanz.

Mit der Abnahme des mechanischen Apparates der Krafterzeugung und Kraftäusserung, mit dem Schwinden der Substanz der Muskeln und Nerven nimmt die Fähigkeit ab, mit der Erneuerung und Wiederherstellung der geformten Körpertheile in dem Ernährungsprocess wird die Fähigkeit, die nämlichen Kraftwirkungen zum wiederholten Male hervorzubringen, wieder hergestellt.

Alle die geformten, Kräfte äussernden Körpertheile stammen von dem Albumin des Blutes, alles Blutalbumin stammt von den plastischen Bestandtheilen der animalischen oder vegetabilischen Nahrung; es ist klar, die plastischen Bestandtheile der Nahrung, welche in letzter Quelle die Pflanze schafft, sind die Bedinger aller Krafterzeugung, aller Kraftäusserungen, aller Wirkungen, welche der thierische Organismus durch seine Sinne oder seine Glieder hervorbringt.

Ein neuer, wundervoller Zusammenhang erschliesst sich dem menschlichen Geiste in diesem Verhältniss der Abhängigkeit des Thieres von der Pflanze.

Die Pflanzen, welche den Thieren zur Nahrung dienen, sind die Erzeuger der plastischen Nahrungsstoffe und damit die Sammler der Kraft; in der Ruhe und im Schlaf kehrt das Thier in den Zustand der Pflanze zurück, die formlosen Bestandtheile seines Blutes werden zu geformten Theilen seiner Gebilde, und indem diese in formlose oder in unorganische Verbindungen zerfallen, kommt die in ihnen aufgespeicherte Kraft in den mannichfaltigsten Wirkungen zur Verwendung: der galvanischen Säule gleich, deren Eigenthümlichkeiten durch eine gewisse Anordnung ihrer Elemente bedingt sind, und die sich selbst in neuen magnetischen, elektrischen und chemischen Wirkungen verzehrt.

Die Beziehungen der plastischen Bestandtheile der Nahrung zu dem Lebensprocess im Thiere scheinen somit erklärt zu sein; indem durch sie das ursprüngliche Gewicht der verbrauchten und ausgetretenen geformten Körpertheile wieder hergestellt wurde, vermittelten sie die Fortdauer aller lebendigen Thätigkeiten.

Ein Pferd, das mit Kartoffeln ernährt und zur Arbeit genöthigt wird, nimmt an Gewicht ab; ohne Arbeit bleibt sein Körpergewicht unverändert; es ist klar, die Arbeit war ein Verbrauch von Körpertheilen, und die in der ganzen Menge der verzehrten Kartoffeln vorhandenen plastischen Bestandtheile reichten zu deren Wiedererzeugung nicht hin; es ward mehr verbraucht, als durch die genossene Nahrung ersetzt war, daher die Abmagerung und Schwäche.

Das Pferd hingegen, welches zu seiner Nahrung eine reichliche Menge Heu und Hafer empfing, konnte eine gewisse Summe von Arbeit

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Justus von Liebig: Chemische Briefe. Leipzig und Heidelberg 1878, Seite 251. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Chemische_Briefe_Justus_von_Liebig_251.jpg&oldid=- (Version vom 17.8.2016)