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Die Bekanntschaft mit diesem Gesetz erhebt den Menschen in Beziehung auf eine Hauptverrichtung, die er mit dem Thiere gemein hat, über die vernunftlosen Wesen, und gewährt ihm in der Regelung seiner leiblichen, sein Bestehen und seine Fortdauer bedingenden Bedürfnisse, einen Schutz, den das Thier nicht bedarf, weil in diesem die Vorschriften des Instinctgesetzes weder durch Sinnenreiz noch durch einen widerstrebenden verkehrten Willen beherrscht werden.

Die Frage nach den letzten Gründen, worauf dieses Instinctgesetz beruht, welches Menschen und Thiere nöthigt, neben den plastischen Materien, aus denen sich ihre Organe erzeugen, gewisse stickstofffreie Substanzen zu geniessen, welche durch ihre Elemente an der Bildung dieser Organe keinen Antheil nehmen, so wie nach der Rolle, welche diese Materien in dem Lebensprocess spielen, beantwortet sich leicht, wenn wir die Bestandtheile des Körpers mit denen der Nahrung vergleichen, und diese letzteren als die Ursachen oder Bedingungen der Wirkungen betrachten, die sie im lebendigen Leibe hervorbringen.

Ein arbeitendes Pferd verzehrt im Jahre 5475 Pfund Heu und 1642 Pfund Hafer[1], ein ausgewachsenes Schwein von 120 Pfund in derselben Zeit 5110 Pfund Kartoffeln[2]. Von dieser ganzen ungeheuren Quantität von Nahrung, welche bei dem Schweine über 40mal mehr als sein Körpergewicht beträgt, nimmt der Körper dieser Thiere am Ende des Jahres an Gewicht entweder nicht zu, oder wenn sie schwerer werden, so macht die Zunahme ihres Körpergewichts einen geringen Bruchtheil von dem Gewichte ihres Futters aus.

In gleicher Weise verhält es sich mit der Speise des Menschen. In einem erwachsenen Menschen, dessen Körpergewicht sich am Ende des Jahres nicht bemerklich ändert, ist das Verhältniss aller seiner Theile und ihrer Zusammensetzung dasselbe wie am Anfang des Jahres. Die ganze Menge von Speise und Trank, die er in 365 Tagen zu sich nahm, ist nicht dazu verwendet worden, um seine Körpermasse zu vermehren, sondern sie hat dazu gedient, um eine Reihe von Wirkungen hervorzubringen.

Die 14 Pfund Kartoffeln, welche das Schwein täglich verzehrte, erzeugten in dessen Leib eine gewisse Quantität von mechanischer Kraft, wodurch die Bewegung seines Blutes, seiner Säfte und Glieder vermittelt wurde, ihre Bestandtheile haben dazu gedient, um den Mechanismus im Gange zu erhalten.

Eine ganz ähnliche Wirkung brachten die 14 Pfund Heu und 4½ Pfund Hafer, welche das Pferd täglich verzehrte, in seinem Leibe hervor, mit dem Unterschiede jedoch, dass diese Futtermenge dem Pferde das Vermögen gab, eine gewisse Quantität von mechanischer Kraft nach aussen hin zu verwenden. Diese Futtermenge erzeugte in seinem Organismus einen Ueberschuss an Kraft, wodurch seine Glieder die Fähigkeit empfingen, ohne seine Gesundheit zu gefährden, eine gewisse Summe von Widerständen zu überwinden, d. h. ein gewisses Maass von Arbeit zu verrichten.

  1. Ann. de chim. et de phys. LXXI. 136.
  2. Ann. de chim. et de phys. Nouvelle série XIV. 443.
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Justus von Liebig: Chemische Briefe. Leipzig und Heidelberg 1878, Seite 249. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Chemische_Briefe_Justus_von_Liebig_249.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)