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werden. Eine Steigerung der Arbeit und Anstrengung über eine gewisse Grenze hinaus, ohne eine entsprechende Vermehrung der Nahrung, ist auf die Dauer hin nicht möglich; die Gesundheit des Thieres wird dadurch gefährdet.

Der Verbrauch an Körpertheilchen oder der Kraftverbrauch steht aber immer in einem gewissen Verhältniss zu dem Sauerstoffverbrauch im Athmungsprocess, und die Menge des in einer gegebenen Zeit in den Körper aufgenommenen Sauerstoffs bestimmt in allen Jahreszeiten und in allen Klimaten der Welt das zur Wiederherstellung des Gleichgewichts nöthige Maass der Speisen.

Während der Arbeiter bei gleichem Kraft- und Sauerstoffverbrauch im Winter dem Wärmeverlust durch wärmende Kleidung (schlechte Wärmeleiter) vorbeugen muss, arbeitet er im Sommer in Schweiss gebadet. Ist die Menge der genossenen Nahrung und des aufgenommenen Sauerstoffs gleich, so ist auch die Menge der entwickelten Wärme gleich.

Der ganze Respirationsprocess erscheint in völliger Klarheit, wenn wir den Zustand eines Menschen oder Thieres bei Enthaltung von aller Speise in’s Auge fassen. Die Athembewegungen bleiben ungeändert, es wird nach wie vor Sauerstoff aus der Atmosphäre aufgenommen und Kohlensäure und Wasserdampf ausgeathmet. Wir wissen mit unzweifelhafter Bestimmtheit, woher der Kohlen- und Wasserstoff stammt, denn mit der Dauer des Hungers sehen wir den Kohlen- und Wasserstoff des Körpers sich vermindern.

Die erste Wirkung des Hungers ist ein Verschwinden des Fettes; dieses Fett ist weder in den sparsamen Fäces, noch im Urin nachweisbar, sein Kohlen- und Wasserstoff sind durch Haut und Lunge in der Form einer Sauerstoffverbindung ausgetreten; es ist klar, diese Bestandtheile haben zur Respiration gedient.

Jeden Tag treten 65 Loth Sauerstoff ein, und nehmen beim Austreten einen Theil von dem Körper des Hungernden mit. Currie sah einen Kranken, der nicht schlingen konnte, während eines Monats über 100 Pfund an seinem Gewichte verlieren, und ein fettes Schwein, das durch einen Bergsturz verschüttet wurde, lebte 160 Tage ohne Nahrung und hatte über 120 Pfund am Gewichte verloren. (Martell in den Transactions of the Linnean Soc. Vol. XI. p. 411.)

Das Verhalten der Winterschläfer, so wie die periodenweise Ansammlung von Fett bei anderen Thieren, von Fett, das in anderen Perioden ihres Lebens verschwindet, ohne eine Spur zu hinterlassen, alle diese wohlbekannten Thatsachen beweisen, dass der Sauerstoff in dem Respirationsprocess eine Auswahl unter den Stoffen trifft, die sich zu einer Verbindung mit ihm eignen. Der Sauerstoff verbindet sich mit denjenigen Stoffen zuerst und vorzugsweise, welche die grösste Anziehung zu demselben haben.

Bei Hungernden verschwindet aber nicht allein das Fett, sondern nach und nach alle der Löslichkeit fähigen festen Stoffe. In dem völlig abgezehrten Körper der Verhungerten sind die Muskeln dünn und mürbe, der Contractilität beraubt; alle Theile des Körpers, welche der Auflösung fähig waren, haben dazu gedient, um den Rest der Gebilde vor der Alles zerstörenden Wirkung der Atmosphäre zu schützen; zuletzt

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Justus von Liebig: Chemische Briefe. Leipzig und Heidelberg 1878, Seite 223. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Chemische_Briefe_Justus_von_Liebig_223.jpg&oldid=- (Version vom 18.8.2016)