Seite:De Chemische Briefe Justus von Liebig 215.jpg

Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.


der Luft und den Elementen des Wassers, die quantitativen Bedingungen ihrer Bildung drückt die Chemie in Formeln aus, und, so weit ihr Gebiet reicht, erklärt sie sie damit.

Es ist auch dem Unkundigen einleuchtend, dass die Verschiedenheit der Eigenschaften zweier Körper entweder abhängig ist von einer verschiedenen Ordnungsweise der Elemente, woraus sie bestehen, oder von einem quantitativen Unterschiede in der Zusammensetzung. Die Formeln des Chemikers sind Ausdrücke der verschiedenen Ordnungsweise oder der quantitativen Verschiedenheiten, welche die qualitativen begleiten. Die heutige Chemie kann selbst durch die sorgfältigste Analyse die Zusammensetzung eines organischen Körpers nicht mit Sicherheit feststellen, wenn die quantitative Beziehung desselben zu einem zweiten nicht ermittelt ist, über dessen Formel kein Zweifel besteht; nur in dieser Weise konnte z. B. die Formel des Bittermandelöls und Fuselöls festgesetzt werden, und wenn ein Abhängigkeitsverhältniss zwischen zwei Körpern durch unmittelbare Beobachtung nicht wahrgenommen werden kann, so ist der Chemiker genöthigt, sich durch die Experimentirkunst die Beziehungen zu schaffen; er sucht den Körper in zwei oder mehrere Producte zu spalten, er untersucht die Producte, die er durch den Einfluss des Sauerstoffs oder des Chlors, der Alkalien und Säuren daraus erhält, und durch diese Mittel gelingt es ihm zuletzt, eines oder mehrere Producte zu erhalten, deren Zusammensetzung vollständig ermittelt ist, deren Formel er kennt. An die Formel dieser Producte knüpft er jetzt die Formel des Körpers an, die er sucht. Die Summe des Ganzen, er erschliesst sie mit der Hülfe der Kenntniss eines, mehrerer oder aller Theile, aus denen das Ganze besteht. So ist die Anzahl der Aequivalente Kohlenstoff, Wasserstoff und Sauerstoff, die zu einem Zuckertheilchen gehören, durch die Analyse nicht bestimmbar; die Geschicklichkeit eines Chemikers giebt keinen Beweis ab für die Richtigkeit seiner Analyse des Salicins, des Amygdalins; der Zucker verbindet sich aber mit Bleioxyd, er zerlegt sich durch die Gährung in Kohlensäure und Alkohol, in zwei Verbindungen, deren Formeln genau bekannt sind; das Amygdalin zerfällt in Blausäure, in Bittermandelöl und Zucker, das Salicin in Zucker und in Saligenin.

Es ist klar, wenn das Gewicht des Körpers und des von einem oder zwei oder allen aus demselben hervorgehenden Producten und ihre Formel bekannt ist, so kann die Anzahl und das Verhältniss von einem oder zwei oder von allen seinen Elementen, d. h. seine Formel, erschlossen, das Resultat der Analyse kann dadurch bewahrheitet oder berichtigt werden.

Die Bedeutung der Formeln des Chemikers ist hiernach klar. Die richtige Formel eines Körpers drückt die quantitativen Beziehungen aus, in welchen der Körper zu einem, zwei oder mehreren anderen steht. Die Formel des Zuckers drückt die ganze Summe seiner Elemente aus, die sich mit einem Aequivalent Bleioxyd vereinigen, oder die Menge Kohlensäure und Alkohol, in welche er durch die Gährung zerfällt. Man wird hiernach verstehen, warum der Chemiker häufig gezwungen ist, den Stoff, dessen Zusammensetzung er feststellen will, in zahlreiche Producte zu spalten, warum er seine Verbindungen studirt. Alles dies sind Controlen für seine Analyse. Keine Formel verdient volles Vertrauen,

Empfohlene Zitierweise:
Justus von Liebig: Chemische Briefe. Leipzig und Heidelberg 1878, Seite 215. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Chemische_Briefe_Justus_von_Liebig_215.jpg&oldid=- (Version vom 18.8.2016)