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der Anatomie möglich gemacht worden sind. So wie Derjenige über die Destillation im Dunkeln bleiben wird, der nichts mehr davon gesehen hat, als die Maische, das Feuer und den Hahn, aus welchem der Spiritus tropft, so ist in der That ohne Kenntniss des Apparates die Einsicht in den Vorgang unmöglich. Nun ist aber der Organismus ein viel zusammengesetzterer Apparat, der vor allen anderen eine ganz genaue Kenntniss der Structur aller einzelnen Theile erfordert, ehe man ihre Bedeutung und die Function für das Ganze beurtheilen kann. (Schleiden.)

Man muss aber immer im Auge behalten, dass seit Aristoteles bis auf Leuvenhoek’s Zeiten die Anatomie für sich über die Gesetze der Lebenserscheinungen nur theilweise Licht verbreitet hat, dass uns die Kenntniss des Destillationsapparates allein über seinen Zweck nicht unterrichtet, dass für viele organische Processe dasselbe behauptet werden kann wie für die Destillation, wo Der, welcher die Natur des Feuers, die Gesetze der Verbreitung der Wärme, die Gesetze der Verdampfung, die Zusammensetzung der Maische und die des Productes der Destillation kennt, unendlich mehr von der Destillation weiss, nicht allein als Der, welcher den Apparat in seinen kleinsten Theilen kennt, sondern auch unendlich mehr als der Kupferschmied, der den Apparat gemacht hat.

Mit jeder Entdeckung in der Anatomie haben die Beschreibungen an Schärfe, Genauigkeit und Umfang zugenommen; die rastlose Forschung ist bis zur Zelle angelangt; von diesem Höhepunkt an muss eine neue Forschung beginnen.

Wenn die anatomische Kenntniss zur Lösung einer physiologischen Frage dienen soll, so muss nothwendig noch Etwas mit hinzugezogen werden, und das Nächste ist doch offenbar der Stoff, aus dem die Form besteht, die Kräfte und die Eigenschaften, die ihm neben den vitalen zukommen, die Kenntniss des Ursprunges des Stoffes und der Veränderungen, die er erfährt um vitale Eigenschaften zu erlangen; es ist zuletzt unerlässlich, die Beziehungen zu kennen, in welchen alle Bestandtheile des Organismus, die flüssigen sowohl wie die festen, ganz abgesehen von der Form, zu einander stehen. Mit dem, was die Chemie über diese hochwichtigen Fragen zu Tage gefördert hat, scheint vielen Physiologen nur die Chemie bereichert worden zu sein, obwohl alle diese Resultate in der Chemie einen ebenso untergeordneten Platz einnehmen, wie die, welche durch die Mineralien- und Mineralwasser-Analysen erworben worden sind.

Von der falschen Vorstellung, die man sich von dem Einflusse der Chemie auf die Erklärung der vitalen Erscheinungen macht, rührt es her, dass man von der einen Seite diesen Einfluss zu gering anschlägt, während die Erwartungen und Anforderungen der anderen zu hoch gespannt sind.

Wenn zwischen zwei Thatsachen ein ganz bestimmter Zusammenhang besteht oder aufgefunden wird, so ist es die Aufgabe der Chemie keineswegs, diesen Zusammenhang zu erweisen, sondern lediglich nur denselben in Quantitäten, in Zahlen auszudrücken. Durch die Zahlen allein kann zwischen zwei Thatsachen keine Beziehung hergestellt werden, wenn diese Beziehung an sich nicht besteht.

Bittermandelöl und Benzoesäure sind ihrem Vorkommen und ihren Eigenschaften nach zwei durchaus verschiedene organische Verbindungen.

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Justus von Liebig: Chemische Briefe. Leipzig und Heidelberg 1878, Seite 213. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Chemische_Briefe_Justus_von_Liebig_213.jpg&oldid=- (Version vom 17.8.2016)