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einer Schallwelle direct proportional ist der Anzahl der Vibrationen der Töne, die dadurch hervorgebracht werden, so erklärt sich hieraus, wie durch die ungleiche Höhe des Tones, welcher durch verschiedene Gase mittelst einer Pfeife hervorgebracht wird, die specifische Wärme der Gase (wie viel das eine Gas mehr als das andere Gas enthält) ermittelt werden kann.

Die grosse Entdeckung, dass die musikalische Harmonie, ein jeder Ton, der das Herz rührt, zur Freude stimmt, für Tapferkeit begeistert, das Merkzeichen einer bestimmten und bestimmbaren Anzahl von Schwingungen der Theile des fortpflanzenden Mediums ist und damit ein Zeichen von Allem, was nach den Gesetzen der Wellenlehre erschliessbar ist aus dieser Bewegung, hat die Akustik zu dem Range erhoben, den sie gegenwärtig einnimmt. Eine Menge die Töne betreffender Wahrheiten wurden aus der Wellenlehre erschliessbar, während empirische Wahrheiten zu einer entsprechenden Kenntniss der Eigenschaften vibrirender Körper führten, welche früher ganz unbekannt waren.

Man unterlegt dem berühmten Wiener Violinverfertiger, dass er sich das Holz zu seinen Violinen im Walde mit dem Hammer ausgesucht, dass er diejenigen Bäume gewählt habe, die beim Anklopfen einen gewissen ihm allein bekannten Ton gegeben hatten. Dies ist sicher eine Fabel; dass er aber wusste, dass das obere oder untere Bret einer guten Violine in einer Secunde eine gewisse Anzahl Schwingungen machen, einen bestimmten Ton geben, und dass die Dicke des Bretes hiernach eingerichtet werden müsse, darüber kann man nicht den geringsten Zweifel hegen.

Wenn man zuletzt erwägt, dass der durch einen Metalldraht gehende elektrische Strom in einem ganz bestimmten Verhältnisse steht zu den magnetischen Eigenschaften, welche dieser Draht hierdurch empfängt, wenn man sich erinnert, dass durch die Magnetnadel die feinsten Unterschiede der strahlenden Wärme gemessen werden können, dass die Quantität der in Bewegung gesetzten Elektricität in Zahlen ausdrückbar ist durch die nämliche Magnetnadel, dass sie gemessen werden kann in Cubikzollen Wasserstoffgas und in Gewichtstheilen von Metallen; wenn wir also sehen, dass die Ursachen oder Kräfte, von welchen die Eigenschaften der Körper, ihre Fähigkeit, auf unsere Sinne einen Eindruck zu machen oder überhaupt einen Effect auszuüben, in einem ermittelbaren Abhängigkeitsverhältnisse zu einander stehen, wer könnte gegenwärtig daran zweifeln, dass die vitalen Eigenschaften diesen Gesetzen der Abhängigkeit gleich allen andern Eigenschaften folgen, dass die chemischen und physikalischen Eigenschaften der Elemente, ihre Form- oder Ordnungsweise, eine ganz bestimmte und bestimmbare Rolle in den Lebenserscheinungen spielen?

Die blosse Kenntniss der chemischen Formeln reicht natürlich hierzu nicht aus, sondern es ist nothwendig, die Gesetze der Beziehungen zu ermitteln, in welchen die Zusammensetzung und Form der Nahrung oder der Secrete zu dem Ernährungsprocesse oder die Zusammensetzung der Heilmittel zu den Wirkungen, die sie auf den Organismus ausüben, stehen.

Es ist gewiss, dass alle Fortschritte der Physiologie der Pflanzen und Thiere von Aristoteles bis auf unsere Zeiten nur durch die Fortschritte

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Justus von Liebig: Chemische Briefe. Leipzig und Heidelberg 1878, Seite 212. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Chemische_Briefe_Justus_von_Liebig_212.jpg&oldid=- (Version vom 18.8.2016)