Seite:De Chemische Briefe Justus von Liebig 196.jpg

Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.


Die Bestimmtheit, mit welcher in vielen Werken über gerichtliche Medicin die bekannt gewordenen Falle nacherzählt und die verschiedenen Theorien der Selbstverbrennung auseinander gesetzt werden, hat den grossen Nachtheil herbei geführt, dass eine Menge unterrichtete praktische Aerzte, gegen ihre bessere Ueberzeugung, die Selbstverbrennung als solche gelten lassen, und dass sie den Angaben und Ansichten nicht widersprechen, um nicht als Ketzer angesehen zu werden.

Es ist Jedermann einleuchtend: wenn heutzutage ein Mensch beschuldigt wird, einen andern durch Gift ermordet zu haben, so muss vor Allem das Gift aufgefunden und bewiesen werden, dass der Beschuldigte dieses Gift zur Ausführung seines Verbrechens gebraucht hat. In Zeiten, wo man die Mittel, um die Gifte mit der grössten Sicherheit zu entdecken, noch nicht kannte, wurde zur Entdeckung die Folter gebraucht. Es ist kaum nöthig daran zu erinnern, dass dieses Werkzeug dahin geführt hat, dass Tausende von Menschen bekannten, dass sie zaubern und hexen könnten. Die Scheiterhaufen für Zauberer und Hexen existiren jetzt nicht mehr, nicht deshalb weil der Beweis geführt ist, dass es keine Hexen giebt, sondern weil eine erleuchtete Naturerkenntniss dahin gelangt ist, unzweifelhaft darzuthun, dass Alles, was man diesen Unglücklichen Schuld gab, nicht dem Teufel, sondern natürlichen Ursachen zugeschrieben werden muss. Diese Tausende wurden auf das Schaffot gebracht durch die Advocaten der Meinung, dass die Zauberei und Hexerei möglich sei und wirklich existire; indem man später nach den Gründen fragte und alle Thatsachen, auf die sie gestützt waren, gewissenhaft und genau prüfte und untersuchte, da ergab sich, dass Alles, was dafür zu sprechen schien, auf falschen Wahrnehmungen, falschen Erklärungen, auf Irrthum oder Lüge beruhte.

Ganz so verhält es sich mit den anderen aus der Erfahrung oder aus der Wissenschaft zusammengesuchten Gründen, mit denen die Vertheidiger der Selbstverbrennung ihre Theorie zu stützen und den Vorgang anschaulich zu machen oder zu beweisen sich bemühen. Die aus der Erfahrung entnommenen Gründe sind zum Theil wahr, aber sie passen für die Fälle nicht. Die aus der Wissenschaft genommenen, sogenannten theoretischen Gründe sind ohne Ausnahme falsch und erklären die Fälle auch nicht.

Da hat z. B. ein Metzger in Neuburg vor 99 Jahren einen Ochsen gehabt, der krank und sehr angeschwollen war; er öffnete den Ochsen und es strömte aus dem Bauch eine brennbare Luft, die sich anzünden liess und mit einer 5 Fuss hohen Flamme brannte. Dieselbe Erscheinung beobachtete Morton an einem todten Schweine, Ruysch und Bailly an menschlichen Leichnamen, welche durch Luftentwickelung ganz ungewöhnlich aufgeschwollen waren.

Auf diese Thatsachen gestützt nehmen die Vertheidiger der Selbstverbrennung an, dass sich in dem Körper des Menschen durch Krankheit ein Zustand erzeugen könne, in welchem er ein brennbares Gas entwickele, welches im Zellgewebe sich ansammle und durch eine äussere Ursache oder einen elektrischen Funken entzündet, die Verbrennung desselben bewirke. Man bemerkt leicht, dass der Schluss und die Thatsachen, auf die er sich stützt, in keinem Zusammenhange stehen.

Empfohlene Zitierweise:
Justus von Liebig: Chemische Briefe. Leipzig und Heidelberg 1878, Seite 196. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Chemische_Briefe_Justus_von_Liebig_196.jpg&oldid=- (Version vom 17.8.2016)