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giebt es keine historischen Beweise für die Wahrheit der Meinung, dass es einen krankhaften Zustand des menschlichen Körpers gäbe, in Folge von welchem derselbe die Verbrennlichkeit von einem Bündel Stroh erlangt.

Um eine solche Meinung für wahr anzuerkennen, müssen vor Allem die Gründe, worauf sie sich stützt, als wahr und unzweifelhaft erkannt und die Thatsachen genau ermittelt sein, an die sich die Gründe knüpfen.

Um die erstere Meinung zu beweisen, muss nicht blos die Möglichkeit bewiesen werden, dass ein Stück Fleisch in dem angegebenen Grade verbrennlich werden kann, sondern es muss bewiesen werden, dass eine solche Verbrennung von dem Fleische aus stattgefunden hat; was die andere Meinung betrifft, so muss dargethan werden, dass ein krankhafter Zustand, wie er vorausgesetzt wird, wirklich besteht, und dass die Personen, welche verbrannt sind, sich in diesem krankhaften Zustand wirklich befunden haben.

Alles dieses ist nicht geschehen. Keiner von allen denen, welche Anhänger der Selbstverbrennungstheorie sind, oder die als Schriftsteller sich bemüht haben diese Theorie ihrer Wissenschaft zu erhalten und zu stützen, hat sich jemals mit Versuchen beschäftigt, um sich über das Verhalten thierischer Materien im Feuer zu unterrichten;[1] keiner von ihnen hat jemals in seinem Leben einen Krankheitszustand beobachtet, durch welchen der lebendige oder todte Körper leicht- oder schnellverbrennlich wird; keiner vermag die Zeichen anzugeben, an denen man einen solchen Zustand erkennt.

Die Anhänger der Selbstverbrennungstheorie sagen, dass mit allem dem, was die heutige Naturforschung wisse, die Möglichkeit der Selbstentzündung und die Wirklichkeit der Selbstverbrennung bei lebenden oder todten Menschen nicht widerlegt sei; wie die Selbstverbrennung vor sich gehe, dies zu erklären sei nicht ihre Sache, sie behaupteten ja blos, dass sie statt habe; dafür sprächen in den vorgekommenen Todesfällen ganz unzweideutige Thatsachen; wie viele Naturerscheinungen giebt es, so sagen sie, welche die Naturwissenschaft noch nicht erklären kann, ohne dass diese Erscheinungen deshalb aufhören wahr zu sein. Wie viele unbekannte Kräfte mag es noch geben, von denen die heutige Chemie noch keine Ahnung hat? und ist es recht oder billig, oder nur anständig, das Zeugniss so vieler Männer, die sich für die Selbstverbrennung ausgesprochen haben, geradezu zu verwerfen und sie in die Classe der Lügner und Dummköpfe zu versetzen, blos deshalb, weil man ihre Meinung nicht theilt?

Alles dies sind keine Gründe, geeignet um eine Ansicht zu rechtfertigen, denn mit solchen Einwürfen lässt sich jede Art von Behauptung vertheidigen, welche dem gesunden Menschenverstande widerspricht, sie passen auf alle. Diese Männer vergessen ganz, dass Niemand die Wahrheit der Todesfälle durch Verbrennung bezweifelt, so wenig wie sich die Wirklichkeit einer Menge nicht erklärter Erscheinungen bezweifeln lässt; diese Thatsache steht fest, aber ihre Erklärung steht nicht fest. Was jene behaupten, ist ja die Thatsache nicht; diese Thatsache,

  1. Julia-Fontenelle ist durch seine Versuche zu einer wesentlich verschiedenen Ansicht gekommen.
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Justus von Liebig: Chemische Briefe. Leipzig und Heidelberg 1878, Seite 192. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Chemische_Briefe_Justus_von_Liebig_192.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)