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Der Mangel des Verständnisses in der Ausdrucksweise ist nicht das einzige Hinderniss des kräftigen Zusammenwirkens der Chemie und Physiologie, ein vielleicht weit grösseres liegt in der Verschiedenheit ihrer Untersuchungsmethoden. In den Untersuchungen der Chemie und Physik gilt es als Grundsatz, dass eine zusammengesetzte Erscheinung durch die Beobachtung vor allem anderen auf einfachere zurückgeführt werden muss; man beginnt mit dem Einfachen, um zum Studium des Zusammengesetzten überzugehen. Die ersten Fragen richten sich auf die nächsten, nicht auf die letzten Ursachen, von dem Bekannten geht man über zu dem Unbekannten. In der Physiologie und Pathologie wurde lange Zeit hindurch die verwickeltste Erscheinung zu erforschen gesucht, ehe man die einfachste kannte; man versuchte das Fieber zu erklären, ohne den Respirationsprocess zu kennen, man erklärte die Wärmeentwickelung im thierischen Körper, ohne den Einfluss der Atmosphäre in Rechnung zu ziehen; die Function der Galle in der Verdauung wurde erklärt, ohne die Galle zu kennen. Daher denn der immer sich wiederholende Streit über die Ursachen des Lebens, welcher an und für sich so unerquicklich, zweck- und nutzlos ist, weil uns die allernächsten Ursachen der einfachsten Lebenserscheinungen kaum bekannt sind.

Es ist sicher, dass eine Menge Wirkungen, die wir in lebendigen Körpern wahrnehmen, durch chemisch-physikalische Ursachen bedingt werden, aber man geht viel zu weit, hieraus schliessen zu wollen, dass alle im Organismus thätigen Kräfte identisch sind mit denen, welche die todte Materie regieren. Es ist leicht darzuthun, dass die Anhänger dieser Ansicht die erste und einfachste Regel der physikalisch-chemischen Methode nicht im Auge haben, welche vorschreibt, zu beweisen, dass eine Wirkung, die man einer Ursache zuschreibt, dieser Ursache auch wirklich angehört.

Wenn die Wärme, die Elektricität, der Magnetismus, die chemische Affinität als die Ursache der Lebenserscheinungen angesehen werden sollen, so muss vorerst der Beweis geführt sein, dass die Theile eines lebendigen Körpers, in welchem Kräfte wirken, ähnliche Erscheinungen zeigen wie die unorganischen Körper, wenn sie dem Einfluss der nämlichen Kräfte unterworfen sind; es muss dargethan werden, wie die genannten Kräfte zusammenwirken, um die wunderbare Harmonie der Verrichtungen hervorzubringen, welche die organischen Wesen von ihrer ersten Entwickelung an bis zu dem Augenblick darbieten, wo ihre Elemente der unorganischen Natur verfallen. Denn wenn man voraussetzt, dass die Kräfte der unorganischen Natur identisch mit denen der organischen sind, so nimmt man nothwendig an, dass alle Naturkräfte überhaupt uns bekannt, dass ihre Wirkungen ermittelt sind, dass man im Stande ist, von den Wirkungen rückwärts die Ursachen zu erschliessen und aus einander zu setzen, welchen Antheil jede einzelne an den Verrichtungen des Lebens nimmt.

Es genügt einen Blick auf die Schriften der Autoren zu werfen, welche diese Ansicht vertheidigen, um sogleich wahrzunehmen, wie weit wir von dergleichen allgemeinen Schlüssen noch entfernt sind. In der Regel gehen diese Ansichten von sehr tüchtigen und gründlichen Forschern aus, welche sich vorzüglich mit der Ermittelung der Bewegungserscheinungen im Thierorganismus beschäftigen; indem sie finden, dass sie nach

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Justus von Liebig: Chemische Briefe. Leipzig und Heidelberg 1878, Seite 175. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Chemische_Briefe_Justus_von_Liebig_175.jpg&oldid=- (Version vom 17.8.2016)