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derselben Classe gehören, wenn durch die Beobachtung gleiche oder ähnliche Ursachen der Fortpflanzung nachgewiesen worden sind.

Wenn man nun frägt, welche Resultate die Forschung nach gleichen oder ähnlichen Ursachen bei andern ansteckenden Krankheiten geliefert hat, so erhält man zur Antwort, dass in dem Contagium der Pocken, der Pest, der Syphilis, des Scharlachs, der Masern, des Typhus, des gelben Fiebers, des Milzbrandes, der Wasserscheu die gewissenhafteste Beobachtung nicht im Stande gewesen ist, Thiere oder überhaupt organisirte Wesen, denen das Fortpflanzungsvermögen zugeschrieben werden könnte, nachzuweisen.

Es giebt demnach Krankheiten, welche durch Thiere verursacht werden, durch Parasiten, die sich in dem Leibe anderer Thiere entwickeln und auf Kosten ihrer Bestandtheile leben; sie können mit anderen Krankheiten nicht verwechselt werden, wo diese Ursachen völlig fehlen, so viele Aehnlichkeit sie auch in ihren äusseren Erscheinungen mit einander haben mögen. Es ist möglich, dass für eine oder die andere contagiöse Krankheit weitere Untersuchungen den Beweis liefern, dass sie zu der Classe der durch Parasiten bedingten Krankheiten gehören; so lange aber dieser Beweis noch nicht geliefert ist, müssen sie nach den Regeln der Naturforschung ausgeschlossen bleiben. Die Aufgabe der Wissenschaft ist es, für diese anderen Krankheiten die besonderen Ursachen, durch die sie hervorgebracht werden, zu ermitteln; die Frage darnach muss gestellt werden, sie wird auf den Weg führen, sie zu finden.

Die grösste Schwierigkeit in dieser Art Untersuchungen liegt offenbar darin, dass wir, an einer gewissen Grenze angekommen, die Wirkungen der in einem belebten Wesen thätigen Kräfte von denen der physikalischen Kräfte nicht mehr zu unterscheiden vermögen. Alle Bemühungen, die Linie, welche das Thier und die Pflanze scheidet, d. h. bestimmte unterscheidende Merkzeichen zwischen beiden aufzufinden, sind bis jetzt ohne Erfolg gewesen. Was wir finden, sind Uebergänge, aber keine Grenzen. Es giebt Actionen, welche durch physikalische Kräfte bedingt werden, und die in ihrer Erscheinung eine Menge Eigenthümlichkeiten der in belebten Wesen wirkenden Ursachen an sich tragen. In einem Thiere der höheren Classen beobachten wir in der Anordnung seiner Theile und in den von diesen ausgehenden wunderbaren Thätigkeiten eine so grosse und auffallende Verschiedenheit von allen Erscheinungen der unbelebten Natur, dass viele verführt sind, sie besonderen, von den unorganischen ganz abweichenden Kräften zuzuschreiben; die vitalen Erscheinungen und ihre unbekannten Ursachen erschienen lange Zeit den Forschern so überwiegend, dass man die Mitwirkung der chemischen und physikalischen Kräfte vergass, dass man ihr Vorhandensein bestritt und leugnete; in den niedrigsten Pflanzengebilden sind, im Gegensatz hierzu, chemische und physikalische Thätigkeiten so vorherrschend, dass die Existenz der vitalen ganz besondere Beweise bedarf; es giebt belebte Wesen, die in ihrer Gestalt unbelebten Niederschlägen gleichen; es ist Thatsache, dass geübte Beobachter krystallinische Bildungen für Algen oder Pilze gehalten und als solche beschrieben haben. An ihrer Grenzlinie sind die Wirkungen der chemischen Kräfte von denen der Lebenskraft nicht mehr unterscheidbar.

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Justus von Liebig: Chemische Briefe. Leipzig und Heidelberg 1878, Seite 168. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Chemische_Briefe_Justus_von_Liebig_168.jpg&oldid=- (Version vom 17.8.2016)