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bedingt ist durch eine Substanz, deren Elementartheilchen sich in einem Zustand der Bewegung befinden.

Unter den Gährungsprocessen ist bis jetzt, wie erwähnt, nur die Alkoholgährung mit einiger Genauigkeit studirt, und es liegen Beobachtungen vor, dass in Pflanzensäften bei Ausschluss der atmosphärischen Luft Gährung erfolgen, dass Zucker in Alkohol und Kohlensäure zerfallen kann, ohne dass die Erzeugung von Gährungspilzen nachweisbar ist (Döpping, Struve, Karsten), in vielen andern Gährungsprocessen sind zuletzt constant vorkommende Pflanzengebilde nicht wahrgenommen worden. Ein wirklicher Zusammenhang der vitalen Eigenschaften dieser organischen Wesen und Bildung der Gährungsproducte ist nicht entfernt bewiesen, und Niemand hat auch nur den Versuch gemacht, beide Erscheinungen in Verbindung zu bringen und zu erklären, wie und auf welche Weise eine Pflanze die Zersetzung des Zuckers in Alkohol und Kohlensäure bedinge. Wenn man die Gründe, womit diese vitalistische Ansicht gestützt und vertheidigt wird, näher beleuchtet, so glaubt man sich in das Kindesalter der Naturforschung zurückversetzt. Es war eine Zeit, wo man über den Ursprung des Kalks in den Knochen, der Phosphorsäure im Gehirn, des Eisens im Blute, der Alkalien in den Pflanzen sich keine Rechenschaft zu geben vermochte, und wir finden es unbegreiflich, dass diese Unwissenheit als ein Beweis für die Meinung angesehen werden konnte, der thierische Organismus besitze die Fähigkeit, Eisen, Phosphor, Kalk, Kali, vermöge der in ihm wirkenden lebendigen Kräfte aus einer Nahrung zu erzeugen, in welcher diese Stoffe fehlten. Mit dieser bequemen Erklärung war die Frage nach dem Ursprung natürlich abgeschlossen, die eigentliche Forschung hörte damit auf.

Die einfache Wahrnehmung führt in der Betrachtung gewisser Gährungs- und Fäulnissprocesse auf das Vorhandensein lebender Wesen, und ohne weitere Fragen zu stellen, wird die Gegenwart der letzteren, deren Ursprung völlig dunkel ist, mit den Fäulniss- und Gährungsproducten in Verbindung gebracht; weil man keine andere Ursache aufzufinden weiss, welche die Bildung dieser Producte erklärt, wird eine Ursache zu Hülfe genommen, welche vollkommen unverständlich ist.

Was die Meinung betrifft, dass die Fäulniss thierischer Substanzen von mikroskopischen Thieren bewirkt werde, so lässt sie sich mit der Ansicht eines Kindes vergleichen, welches den raschen Fall und Lauf des Rheinstromes durch die vielen Rheinmühlen bei Mainz sich erklärt, deren Räder das Wasser mit Gewalt nach Bingen hin bewegen.

Ist es denkbar, Pflanzen und Thiere als Ursachen von Wirkungen anzusehen, als Vernichter und Zerstörer von Pflanzen- und Thierleibern, wenn sie selbst und ihre eigenen Bestandtheile den nämlichen Zerstörungsprocessen unterliegen?

Wenn der Pilz die Ursache der Zerstörung eines Eichbaums, das mikroskopische Thier die Ursache der Fäulniss eines todten Elephanten ist, was bewirkt denn nach seinem Absterben die Fäulniss des Pilzes, die Fäulniss und Verwesung des todten mikroskopischen Thieres? Sie gähren, faulen und verwesen ja auch, und verschwinden allmählich ganz, wie der Baum und das grosse Thier, und liefern zuletzt die nämlichen Producte!

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Justus von Liebig: Chemische Briefe. Leipzig und Heidelberg 1878, Seite 162. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Chemische_Briefe_Justus_von_Liebig_162.jpg&oldid=- (Version vom 17.8.2016)