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Wenn man unter vitaler Thätigkeit die Fähigkeit eines Keimkorns oder eines Samens versteht, gewisse Materien von Aussen, kraft der in ihnen wirkenden Ursachen aufzunehmen und zu Theilen ihrer selbst übergehen zu machen, so beweist die Bildung der Hefenzellen in der gährenden Bierwürze ohne allen Zweifel das Vorhandensein einer vitalen Thätigkeit; aus einer gewissen Menge Zucker ist höchst wahrscheinlich die Zellenwand gebildet worden, die aus einer niemals in krystallinischer Form auftretenden und in der organischen Reihe höher als der Zucker stehenden Verbindung besteht; aus dem Kleber des Malzes entstand der Zelleninhalt, der unter andern Theile enthält, Sporen oder Keimkörner, welche in frischer Bierwürze die Entstehung und Entwickelung neuer Zellen bedingen.

Wenn aber die Entwickelung, Vermehrung und Fortpflanzung dieser Pflanzengebilde die Ursache der Gährung ist, so müsste überall, wo wir diese Wirkung wahrnehmen, vorausgesetzt werden, dass auch ihre Bedingungen, nämlich Zucker, aus welchem sich die Zellenhaut, und Kleber, aus dem sich ihr Inhalt bilden könne, vorhanden sind.

Das Merkwürdigste in den Erscheinungen der Gährung, und gerade dasjenige, was bei der Erklärung vorzüglich in Betracht kommt, besteht aber darin, dass die fertig gebildeten, ausgewachsenen Hefenzellen die Ueberführung des reinen Rohrzuckers in Traubenzucker und dessen Auseinanderfallen in ein Volum Kohlensäure und ein Volum Alkoholdampf bewirken, und dass die Elemente des Zuckers ohne allen Verlust in diesen Producten wieder erhalten werden, dass also, da drei Pfund Hefe (trocken gedacht) zwei Centner Zucker zur Zerlegung bringen, eine sehr mächtige Wirkung statt hat, ohne allen nachweisbaren Verbrauch von Stoff zu dem vitalen Zweck der Zellenbildung; wäre die Gährung erregende Eigenschaft abhängig von der Entwickelung, Fortpflanzung und Vermehrung der Hefenzellen, so würde diese in reinem Zuckerwasser, in welchem die andere Hauptbedingung zur Aeusserung[1] dieser vitalen Eigenschaften, die zur Erzeugung des Zelleninhaltes nothwendige stickstoffhaltige Substanz fehlt, keine Gährung hervorbringen können.

Die Erfahrung zeigt, dass in diesem Fall die Hefenzellen nicht Gährung bewirken, weil sie sich fortentwickeln, sondern in Folge der Veränderung ihres stickstoffhaltigen Zelleninhaltes, der in Ammoniak und andere Producte zerfällt, in Folge also einer Zersetzung, welche der gerade Gegensatz eines organischen Bildungsprocesses ist; mit immer erneuerter Zuckerlösung zusammengebracht, verliert nämlich die Hefe allmählich ihre Fähigkeit, Gährung zu erregen, vollständig und es bleiben zuletzt nur ihre stickstofffreien Hüllen oder Zellenwände in der Flüssigkeit zurück.

Es geht hieraus hervor, dass die Ursache des Auseinanderfallens der Zuckerbestandtheile nicht in einem Vegetationsprocesse gesucht werden kann, weil diese Erscheinung statt hat, ohne dass sich die Hefenzellen als vegetabilisches Gebilde reproduciren, und unter Umständen, die ihre Fähigkeit der Fortpflanzung und Vermehrung vernichten; es ist offenbar, dass diese Ursache auf dem Vorhandensein einer Thätigkeit beruht, welche fortdauert, auch wenn die Bedingungen der Zellenbildung ausgeschlossen sind.

  1. WS: korrigiert, im Original: Aesserung
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Justus von Liebig: Chemische Briefe. Leipzig und Heidelberg 1878, Seite 160. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Chemische_Briefe_Justus_von_Liebig_160.jpg&oldid=- (Version vom 18.8.2016)