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viele Physiologen und Aerzte eine eigenthümliche Ansicht gebildet, welche der Erwähnung kaum werth wäre, wenn sie nicht die Grundlage ganz falscher Vorstellungen, über das Wesen des Lebensprocesses überhaupt und namentlich mancher pathologischer Zustände und gewisser Krankheitsursachen abgäbe.

Sie betrachten nämlich die Gährung oder das Zerfallen höherer organisch-vegetabilischer Atome in einfachere Verbindungen als die Wirkung der Lebensäusserungen vegetabilischer, die Fäulniss oder denselben Vorgang in Thiersubstanzen, als bedingt durch die Entwickelung oder die Gegenwart thierischer Wesen. Dieser Ansicht entsprechend, nehmen sie als eine einfache Folgerung an, dass die Entstehung von miasmatischen oder contagiösen Krankheiten, in so fern sie sich auf das Vorhandensein von Fäulnissprocessen zurückführen lassen, denselben oder ähnlichen Ursachen zugeschrieben werden müsse.

Die nächsten und wichtigsten Stützen dieser Ansicht über die Gährung lassen sich auf Beobachtungen zurückführen, welche sich auf die Alkoholgährung und das Verhalten der Wein- und Bierhefe beziehen. Durch die mikroskopische Untersuchung der Pflanzenphysiologen und Botaniker ist nämlich ermittelt worden, dass die Wein- und[1] Bierhefe aus einzelnen, oft perlschnurartig zusammengereihten Kügelchen besteht, welche alle Eigenthümlichkeit von belebten Pflanzenzellen besitzen, und mit gewissen niederen Pflanzengattungen, gewissen Pilzen oder Algen die grösste Aehnlichkeit haben. In den bekannten in Gährung übergehenden Pflanzensäften bemerkt man nach mehreren Tagen kleine Pünktchen, welche sich von innen aus vergrössern, man bemerkt einen körnigen Inhalt, umgeben von einer hellen Hülle.

Die chemische Untersuchung hat in Uebereinstimmung mit diesen Beobachtungen dargethan, dass die Zellenwand der Bierhefekügelchen aus einer stickstofffreien, der Cellulose in ihrer Zusammensetzung gleichen Materie besteht, welche unauflöslich zurückbleibt, wenn die mit Wasser ausgewaschene Hefe mit schwachen kaustischen Alkalien behandelt wird. Die alkalische Flüssigkeit nimmt eine Materie auf, welche allen Stickstoff der Hefenkügelchen enthält, und die in ihrer Zusammensetzung und ihrem chemischen Verhalten wenig und vorzüglich nur im Sauerstoffgehalte von dem Kleber der Getreidearten verschieden ist. Nach dem Einäschern hinterlässt die Hefe eine Asche, welche identisch in Beziehung auf ihre Bestandtheile mit der Asche des Getreideklebers ist.

Es ist hervorgehoben worden, dass in der gährenden Bierwürze die Bildung und Abscheidung der Hefenzellen gleichen Schritt hält mit der Entstehung der Kohlensäure und des Alkohols; wenn der Zucker zersetzt ist, so erzeugt sich keine Hefe mehr; die Hefe enthält den stickstoffhaltigen Bestandtheil des Malzes oder der Gerste, von welchem bei einem gewissen Gehalt an Zucker die Flüssigkeit nach der Gährung nur Spuren in Auflösung zurückbehält.

Das gleichzeitige Auftreten der Hefenzellen und der Zersetzungsproducte des Zuckers ist es vorzüglich, womit man die Meinung zu begründen versucht hat, dass die Gährung des Zuckers eine Wirkung des Lebensprocesses sei, eine Folge der Entwickelung, des Wachsthums und der Fortpflanzung dieser niedrigen Pflanzengebilde.

  1. WS: korrigiert, im Original: umd
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Justus von Liebig: Chemische Briefe. Leipzig und Heidelberg 1878, Seite 159. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Chemische_Briefe_Justus_von_Liebig_159.jpg&oldid=- (Version vom 18.8.2016)