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ihre Beschaffenheit und alle Eigenschaften unbegrenzte Zeiten hindurch behalten müssen, die sie beim Eintreten des Sieden besassen. Die Materie hat für sich selbst keine Bewegungsfähigkeit; ohne dass eine äussere Ursache auf die Atome einwirkt, wechselt keines derselben seinen Platz, ändert keines seine Eigenschaften.

Füllt man Traubensaft in eine Flasche ein, die man luftdicht verschliesst, und legt sie einige Stunden oder so lange in siedendes Wasser, bis dass er die Siedhitze angenommen hat, so wird während des Erhitzens die geringe Menge Sauerstoff, welche mit der Luft in die Flasche eingeschlossen worden war, von den Bestandtheilen des Saftes aufgenommen und damit die Ursache einer jeden weiteren Störung entfernt; er gährt jetzt nicht mehr und bleibt süss, und dieser Zustand hält sich, bis die Flasche geöffnet und mit der Luft wieder in Berührung gebracht wird. Von diesem Augenblicke an stellt sich die nämliche Veränderung wieder ein, welche der frische Saft erleidet; nach wenigen Stunden befindet er sich in voller Gährung, die durch Aufkochen ganz wie im Anfange unterbrochen und aufgehalten werden kann.

Von diesen Erfahrungen, die für alle organischen Materien ohne Ausnahme eine gleiche Geltung haben, hat man die schönsten Anwendungen gemacht. Während man sonst auf langen Seereisen nur auf gesalzene und geräucherte Speisen beschränkt war, durch welche die Gesundheit der Mannschaft und der Reisenden zuletzt litt, während sonst Tausende von Menschen ihr Leben durch den blossen Mangel an frischen, in Krankheiten durchaus nothwendigen Nahrungsmitteln einbüssten, werden jetzt alle diese Unbequemlichkeiten oder Gefahren immer seltener. Es ist dies gewiss eines der wohlthätigsten Geschenke, welche das Leben von der Wissenschaft durch Gay-Lussac empfing.

In Leith bei Edinburgh, in Aberdeen, in Bordeaux und Marseille, so wie in Deutschland haben sich Kochhäuser grösster Ausdehnung aufgethan, in welchen auf die reinlichste Weise Suppen, Gemüse, Fleischspeisen aller Art zubereitet und in die grössten Entfernungen hin versendet werden. Die fertigen Speisen werden in Büchsen von verzinntem Eisenblech eingeschlossen, die Deckel sodann luftdicht verlöthet und in einem hierzu geeigneten Ofen der Temperatur des siedenden Wassers ausgesetzt. Wenn dieser Hitzgrad die Masse in der Büchse bis zur Mitte hin durchdrungen hat, was, wenn sie in siedendes Wasser gelegt werden, immer drei bis vier Stunden dauert, so haben jetzt diese Speisen eine, man kann sagen, ewige Dauer. Wird die Büchse nach Jahren geöffnet, so sieht der Inhalt gerade so aus, wie in dem Augenblick, wo er eingefüllt wurde; die Farbe des Fleisches, der Gemüse, der Geschmack und Geruch sind völlig unverändert. Diese schätzbare Aufbewahrungsmethode hat in einer Menge Haushaltungen dieser Gegend, in Frankfurt und Darmstadt Eingang gefunden und die Hausfrauen in den Stand gesetzt, den Tisch im Winter mit den seltensten Gemüsen des Frühlings und Sommers, so wie mit Fleisch- und andern Gerichten zu zieren, die sonst nur zu gewissen Jahreszeiten zu haben sind. Ganz besonders wichtig wird dieses Verfahren zur Proviantirung von Festungen werden, da der Verlust, den man durch Veräusserung der alten und ihre Erneuerung durch neue Vorräthe, namentlich von Fleisch (Schinken etc.)

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Justus von Liebig: Chemische Briefe. Leipzig und Heidelberg 1878, Seite 155. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Chemische_Briefe_Justus_von_Liebig_155.jpg&oldid=- (Version vom 17.8.2016)