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und Bierhefe weit reicher an Sauerstoff, als die stickstoffhaltigen Substanzen, aus denen sie entsteht.

So lange noch gährende Zuckertheilchen in der Flüssigkeit neben diesen Materien vorhanden sind, ist es die Flüssigkeit selbst, welche durch Zersetzung von Wasser oder einer kleinen Menge Zucker den zu ihrem Uebergang in Hefe nöthigen Sauerstoff liefert; dieser Oxydationsprocess im Innern der Flüssigkeit, der ihre Abscheidung bedingt, findet mit dem Verschwinden des Zuckers seine Grenze; er stellt sich aber auf’s Neue ein, wenn die Flüssigkeit durch Zusatz von Zucker in den gährungsfähigen Zustand zurückversetzt wird; er stellt sich ferner ein, wenn die Oberfläche der Flüssigkeit mit Luft in Berührung gelassen wird; in letzterem Falle geschieht ihre Abscheidung auf Kosten des Sauerstoffs der Luft, also in Folge ihrer Verwesung.

Es ist nun erwähnt worden, dass die Gegenwart dieser stickstoffhaltigen Materien neben Alkohol bei hinlänglichem Luftzutritt die Ueberführung des Alkohols in Essigsäure bedingt; nur die Ungleichheit ihrer Verwandtschaft zum Sauerstoff ist der Grund, dass beim Lagern des Weines, wo der Luftzutritt äusserst beschränkt ist, sich nur der stickstoffhaltige Bestandtheil, und nicht gleichzeitig auch der Alkohol oxydirt; in offenen Gefässen würde der Wein unter diesen Umständen in Essig übergegangen sein.

Es ist nach dem Vorhergehenden klar, dass, wenn wir ein Mittel hätten, die Säuerung des Alkohols, seinen Uebergang in Essigsäure bei einer unbeschränkten Zufuhr von Luft oder Sauerstoff zu hindern, wir damit in der kürzesten Zeit dem Wein und Bier eine unbegrenzte Haltbarkeit, die völlige Reife zu geben vermöchten; denn unter diesen Umständen würden sich alle die Säurung bewirkenden Materien des Weines und Bieres mit Sauerstoff verbinden, sie würden in unauflöslichem Zustande abgeschieden werden. Mit ihrer Entfernung würde der Alkohol das Vermögen, Sauerstoff aufzunehmen, gänzlich verlieren.

Dieses Mittel hat die Experimentirkunst in einer niedrigen Temperatur aufgefunden, und es hat sich darnach, namentlich in Bayern, ein Gährverfahren gebildet, auf welches die vollendetste Theorie einfacher und sicherer und den wissenschaftlichen Grundsätzen mehr entsprechend kaum hätte führen können.

Der Uebergang des Alkohols in Essigsäure durch Berührung mit einer verwesenden Substanz findet am raschesten statt bei einer Temperatur von 35 Grad; unterhalb derselben nimmt die Verwandtschaft des Alkohols zum Sauerstoff ab; bei einer Temperatur von 8 bis 10 Grad (des hunderttheiligen Thermometers) findet unter diesen Umständen keine Verbindung mehr statt; die Neigung oder die Fähigkeit der stickstoffhaltigen Substanzen, Sauerstoff anzuziehen, ist aber bei dieser niedrigen Temperatur kaum merklich geschwächt.

Es ist darnach einleuchtend, dass, wenn die Bierwürze, wie dies in Bayern geschieht, in weiten, offenen Gefässen, welche dem Sauerstoff unbeschränkten Zutritt gestatten, der Gährung überlassen wird, und zwar in einem Raume, dessen Temperatur 8 bis 10 Grad nicht übersteigt, eine Abscheidung der Säurungserreger gleichzeitig im Innern und an der Oberfläche der Flüssigkeit stattfindet. Das Klarwerden des Bieres

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Justus von Liebig: Chemische Briefe. Leipzig und Heidelberg 1878, Seite 152. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Chemische_Briefe_Justus_von_Liebig_152.jpg&oldid=- (Version vom 17.8.2016)