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wo der Widerstand (die Kraft, Lebenskraft, Verwandtschaft, elektrische Kraft, Cohäsionskraft), der sich der Bewegung entgegensetzt, nicht hinreicht, um sie aufzuheben.

Als eine neu erkannte Ursache der Form- und Beschaffenheitsveränderung in chemischen Verbindungen ist dieses Gesetz der grösste und bleibendste Gewinn, den das Studium der Gährung der Wissenschaft erworben hat.



Neunzehnter Brief.


Die erste und wichtigste Ursache aller Umwandlungen und Veränderungen, welche die organischen Atome erleiden, ist, wie in dem vorhergehenden Briefe erwähnt, die chemische Action des Sauerstoffs; Gährung und Fäulniss stellen sich erst in Folge eines beginnenden Verwesungsprocesses ein; ihre Vollendung ist die Herstellung eines Gleichgewichtszustandes; indem sich der Sauerstoff mit einem der Elemente des organischen Körpers verbindet, wird der ursprüngliche Zustand des Gleichgewichtes der Anziehung aller Elemente aufgehoben, er zerfällt und spaltet sich in Folge der Ausgleichung aller Anziehungen in eine Reihe von neuen Producten, welche, wenn nicht neue Störungen, neue Ursachen der Veränderung auf sie einwirken, keinem weiteren Wechsel in ihren Eigenschaften mehr unterliegen.

Allein wenn auch die chemische Action, welche die Elemente der organischen Atome in der Gährung und Fäulniss auf einander auszuüben vermögen, in der Art sich völlig ausgleicht, dass zwischen den Anziehungen der neugebildeten Producte ein Ruhestand sich einstellt, so findet ein solches Gleichgewicht in Beziehung auf ihre Anziehung zum Sauerstoff in keiner Weise statt. Die chemische Action des Sauerstoffs hört erst dann auf, wenn die Fähigkeit ihrer Elemente, sich mit Sauerstoff zu verbinden, erschöpft ist. Die chemische Action des Sauerstoffs ist ja nichts anderes, als das Streben nach Verbindung; eine Ausgleichung dieses Strebens kann, wie sich von selbst versteht, erst dann eintreten, wenn durch die Wirkung des Sauerstoffs Producte gebildet werden, denen das Vermögen, noch mehr Sauerstoff in sich aufzunehmen, völlig abgeht; erst dann befinden sich ihre eigenen Anziehungen mit denen des Sauerstoffs im Gleichgewicht.

Die Gährung oder Fäulniss stellt ein Stadium des Rückganges der zusammengesetzteren organischen Atome in einfachere Verbindungen dar; mit dem Uebergang der Producte der Gährung und Fäulniss in luftförmige Verbindungen durch den Verwesungsprocess vollendet sich der Kreislauf; die Elemente der organischen Wesen, welche ursprünglich, ehe sie Antheil an den Lebensprocessen nahmen, Sauerstoffverbindungen waren, der Kohlenstoff und Wasserstoff, nehmen die Form von Sauerstoffverbindungen wieder an. Der Verwesungsprocess ist ein bei gewöhnlicher Temperatur erfolgender Verbrennungsprocess, in welchem die

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Justus von Liebig: Chemische Briefe. Leipzig und Heidelberg 1878, Seite 146. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Chemische_Briefe_Justus_von_Liebig_146.jpg&oldid=- (Version vom 17.8.2016)