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Gerstenmalz, in welchem Stärkekleister in wenigen Minuten in Traubenzucker übergeführt werden kann; er verliert diese Fähigkeit in wenigen Tagen schon, und nimmt jetzt die Eigenschaft an, den Traubenzucker in Milchsäure, Mannit und Gummi umzuwandeln; nach acht bis zehn Tagen verliert sich auch diese vollkommen, der Auszug wird trübe, und mit Zucker in Berührung, bewirkt er jetzt die Zerlegung des Zuckeratoms in Alkohol und Kohlensäure.

Die in dem Vorhergehenden berührten Erscheinungen, in ihrer wahren Bedeutung aufgefasst, beweisen, dass die in den Gährungsprocessen vor sich gehenden Umwandlungen und Zersetzungen durch eine Materie bewirkt werden, deren kleinste Theilchen sich in einem Zustand der Umsetzung und Bewegung befinden, die sich anderen nebenliegenden ruhenden Atomen mittheilt, so dass auch in diesen, in Folge der eingetretenen Störung des Gleichgewichtes der chemischen Anziehung, die Elemente und Atome ihre Lage ändern und sich zu einer oder mehreren neuen Gruppen ordnen.

Wir beobachten, dass die in den Gährungen gebildeten Producte wechseln mit der Temperatur und dem Zustand der Umsetzung, in welchem sich die Theilchen des Gährungserregers befinden; es ist klar, dass die neue Ordnungsweise der Atome, welche die Natur und die Eigenschaften der neugebildeten Producte bedingt, in einer ganz bestimmten Beziehung steht zu der Art und Weise, zu der Richtung und Stärke der auf sie einwirkenden Bewegung.

Alle organischen Stoffe sind Gährungserreger oder Fermente, sobald sie in Fäulniss übergegangen sind; in einem jeden organischen Atom pflanzt sich die eingetretene Veränderung fort, das in sich selbst, durch die in ihm thätige Kraft, nicht vermögend ist, die Bewegung durch Widerstand aufzuheben. Faulendes Fleisch, Blut, Galle, die Schleimhaut des Magens theilen mit den in Pflanzentheilen oder Pflanzensäften vorkommenden Substanzen einerlei Vermögen; die Gährung erregenden Materien, worunter man diejenigen complexen Atome begreift, die bei der blossen Berührung mit Wasser oder Sauerstoff in Selbstentmischung übergehen, besitzen Eigenschaften, die allen gemein sind; sie üben, ein jeder für sich, wieder besondere Wirkungen aus, durch die sie sich wesentlich von einander unterscheiden. Die letzteren stehen in der engsten Beziehung zu ihrer Zusammensetzung. Der Pflanzenkäse der Mandeln wirkt auf Amylon und Zucker ganz wie Kleber oder Hefe, allein diese beiden letzteren sind nicht vermögend, das Salicin in Saligenin und Zucker, das Amygdalin in Blausäure und Bittermandelöl zerfallen zu machen. In ähnlicher Weise erlangen thierische Membranen in gewissen Zuständen alle Eigenschaften des gährenden thierischen Käses, allein letzteres hat auf das Lösungsvermögen der Salzsäure, auf die Verflüssigung von gekochtem Eiweiss und Fleisch keinen merklichen Einfluss.

Alle Erscheinungen der Gährung zusammengenommen, beweisen den längst schon von Laplace und Berthollet aufgestellten Grundsatz, „dass ein durch irgend eine Kraft in Bewegung gesetztes Atom (Molecule) seine eigene Bewegung einem anderen Atom mittheilen kann, welches sich in Berührung damit befindet.“ Dies ist ein Gesetz der Dynamik, von der allgemeinsten Geltung überall,

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Justus von Liebig: Chemische Briefe. Leipzig und Heidelberg 1878, Seite 145. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Chemische_Briefe_Justus_von_Liebig_145.jpg&oldid=- (Version vom 18.8.2016)