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ist in Chester ganz anders als in Glocestershire, und da wieder anders wie in der Gegend, wo die Stilton-Käse gemacht werden.

Das Lab von jungen Kälbern oder die Schleimhaut des Magens der Thiere überhaupt zeigt nun neben der Fähigkeit, den Milchzucker in Milchsäure umzuwandeln, noch die Eigenschaft, feste thierische Stoffe bei Gegenwart von schwacher Salzsäure auflöslich zu machen oder zu verflüssigen, und die hierbei beobachteten Erscheinungen haben auf den Verdauungsprocess im lebendigen Thierkörper ein unerwartetes Licht verbreitet. Vielen sogenannten Gährungserregern oder Fermenten gehört dieses flüssigmachende Vermögen in einem gewissen Stadium ihrer Umsetzung an, wir haben es beim Malzauszug und Kleber in Beziehung auf das Amylon schon kennen gelernt; allein in dieser Eigenschaft werden beide von der Magenschleimhaut bei weitem übertroffen. Wenn man ein Stückchen Labmagen einige Stunden in warmes Wasser legt, welches mit so wenig Salzsäure versetzt ist, dass es kaum bemerklich sauer schmeckt, so hat man eine Flüssigkeit, die auf gekochtes Fleisch, auf Kleber und hart gesottenes Eiweiss genau so wirkt, wie der Magensaft im lebendigen Magen, welcher gleich dieser künstlichen Verdauungsflüssigkeit eine von einer freien Säure herrührende saure Reaction besitzt. Einer Temperatur von siebenunddreissig Grad (der Temperatur des Magens) ausgesetzt, wird das Muskelfleisch, das hartgesottene Eiweiss sehr rasch an den Rändern schleimig und durchscheinend und nach wenig Stunden schon zu einer von Fetttheilchen schwach getrübten Flüssigkeit vollkommen aufgelöst. Die auflösende Fähigkeit, welche die Salzsäure für sich besitzt, wird durch eine kaum wägbare Menge der in den Zustand der Umsetzung übergegangenen Schleimhaut in dem Grade beschleunigt, dass die Auflösung jetzt in dem fünften Theil der Zeit, die sonst dazu gehört, vor sich geht. Die neuere Physiologie hat dargethan, dass in jeder Verdauung sich die ganze äusserste Magenoberhaut, das Epithelium, ablöst; es kann keinem Zweifel unterliegen, dass die Substanz derselben, mit Sauerstoff in Berührung, den der Speichel in der Form von schaumartig eingeschlossener Luft dem Magen zuführt, eine Veränderung erfährt, in deren Folge die Auflösung und Verflüssigung des Mageninhaltes in der kürzesten Zeit erfolgt.

Man hat eine Zeit lang geglaubt, dass das beschleunigende Auflösungsvermögen, welches die Magenschleimhaut der salzsäurehaltigen Flüssigkeit ertheilt, von der Gegenwart eines eigenthümlichen Stoffes, einer Art Verdauungsstoff, abhängig sei; dieselbe Meinung hat man in Beziehung auf den im Malzauszug enthaltenen Stoff gehegt, durch welchen das Amylon in Zucker übergeführt wird; man hat diesen Materien sogar besondere Namen gegeben. Allein was man mit Pepsin oder Diastase bezeichnet, ist nichts anderes, als der in Zersetzung übergegangene Theil der Schleimhaut oder des Klebers; ihre Wirkungen sind, wie bei der Hefe, nur von ihrem Zustande abhängig.

Mit einem Stück Magenhaut können wir in einem gewissen Zustande der Zersetzung eine Menge thierischer Stoffe zur Auflösung bringen; in einem anderen Stadium führen wir damit Amylon in Zucker, Zucker in Milchsäure, Mannit und Schleim, oder in Alkohol und Kohlensäure über. So verhält es sich denn auch mit einem wässerigen Auszug von frischem

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Justus von Liebig: Chemische Briefe. Leipzig und Heidelberg 1878, Seite 144. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Chemische_Briefe_Justus_von_Liebig_144.jpg&oldid=- (Version vom 17.8.2016)