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bekannt, dass süsse Mandeln, zu einem feinen Brei gestossen und mit etwa dem vier- bis sechsfachen Gewicht Wasser angerührt, eine Flüssigkeit geben, welche in ihren äusseren Eigenschaften die grösste Aehnlichkeit mit einer sehr fetten Kuhmilch hat. Wie bei dieser wird das milchähnliche Ansehen von fein zertheilten Oel- und Fetttheilchen hervorgebracht, die sich in der Ruhe auf der Oberfläche in Gestalt eines Rahms ablagern; wie die Thiermilch gerinnt sie beim Zusatz von Essig, und wird von selbst sauer, wenn sie längere Zeit stehen bleibt. Diese Mandelmilch enthält eine dem thierischen Käse in seinen Eigenschaften ganz gleiche Substanz von eben so grosser Veränderlichkeit.

Der Thierkäse erleidet von dem Augenblick an, wo die Milch den Euter der Kuh verlässt, eine fortschreitende Veränderung, die freilich erst nach längerer Zeit in dem Gerinnen sichtbar wird; in ganz gleicher Weise erfolgt eine Umsetzung in den Elementen des Pflanzenkäses, sobald die süssen Mandeln in den Zustand der Mandelmilch versetzt worden sind. Der Pflanzenkäse der Mandeln enthält, wie der Thierkäse, Schwefel, aber ein grösseres Verhältniss Stickstoff, woher es denn kommen mag, dass der Thierkäse nicht in allen Stücken als Gährungsmittel dieselbe Wirkung hat. In Beziehung auf die Gährung des Zuckers haben übrigens beide einerlei Eigenschaften.

Setzt man einer Auflösung von Traubenzucker (welcher identisch mit dem Stärkezucker oder dem festen Bestandtheil des Bienenhonigs ist) Mandelmilch oder durch kaltes Pressen vom fetten Oel befreite Mandelkleie hinzu, so geräth, an einem warmen Orte stehend, die Flüssigkeit sehr bald in lebhafte Weingährung; man erhält daraus durch Destillation einen eigenthümlichen, wiewohl höchst angenehm schmeckenden Branntwein. Diese Wirkung besitzt der Thierkäse auch, aber der Pflanzenkäse der Mandelmilch bringt in einer Menge von organischen Verbindungen, im Salicin und Amygdalin z. B., Zersetzungen und Umsetzungen hervor, welche der thierische Käse nicht bewirkt.

Das Salicin ist der Bestandtheil der Weidenrinde, welcher ihr den bekannten stark bitteren Geschmack und die Eigenschaft ertheilt, beim Betröpfeln mit concentrirter Schwefelsäure eine carminrothe Farbe anzunehmen; er ist durch Wasser leicht anziehbar; im reinsten Zustande stellt er blendend weisse, feine, lange, seidenartig verwebte Nadeln dar. Das Salicin ist, wie der Zucker, stickstofffrei.

Bringt man Salicin in Mandelmilch, so verschwindet sehr bald der bittere Geschmack und macht einem rein süssen Platz. In diesem Zeitpunkt ist alles Salicin verschwunden und man hat nun Traubenzucker und einen neuen, von dem Salicin durchaus verschiedenen Körper, das Saligenin. Zucker und Saligenin enthalten die Elemente des Salicins. Ein Salicinatom zerfällt, ohne dass etwas hinzu- oder austritt, in Berührung mit dem Pflanzenkäse der Mandelmilch in ein Zuckeratom und ein Saligeninatom.

Noch weit merkwürdiger ist das Verhalten dieses Pflanzenkäses gegen das Amygdalin; die eigenthümlichen Producte, welche aus den bittern Mandeln erhalten werden, sind lange Zeit hindurch für ein kaum lösbar scheinendes Räthsel gehalten worden, bis man das Amygdalin als

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Justus von Liebig: Chemische Briefe. Leipzig und Heidelberg 1878, Seite 138. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Chemische_Briefe_Justus_von_Liebig_138.jpg&oldid=- (Version vom 17.8.2016)