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in Bewegung gesetzt; denn um sich in anderen Richtungen zu lagern, mussten sie sich in Bewegung befinden.

Die faulenden Substanzen üben eine Wirkung auf zusammengesetzte organische Atome aus, welche für sich der Fäulniss nicht fähig sind; es ist gewiss, dass ihre Wirkung abhängig ist von einem gewissen Zustande, in welchem sich ihre Elemente befinden; es ist ferner gewiss, dass dieser Zustand ein Ortswechsel oder eine Spaltung der Elementartheilchen des faulenden Körpers ist, und eben so unleugbar, dass durch ihre Berührung mit gährungsfähigen Materien auch deren Elemente sich in neuen Richtungen lagern, und es folgt hieraus von selbst, dass die Atome gährungsfähiger Substanzen sich bei Berührung mit faulenden verhalten, wie wenn ihre Elementartheile Theile und Bestandtheile der faulenden wären. An der in den Atomen des Ferments eingetretenen Bewegung nehmen die Atome des gährungsfähigen Körpers Antheil, der eingetretene Ortswechsel des ersteren verursacht, dass auch die Kohlenstoff-, Wasserstoff- und Sauerstoffatome des nicht fäulnissfähigen ihren Ort und ihre Lage wechseln.

Es erklärt sich hieraus von selbst, warum diese Processe einen Anfang, eine gewisse Dauer und ein Ende haben, worin sie sich von den gewöhnlichen chemischen Processen so sehr unterscheiden. Wenn wir Schwefelsäure zu einem Barytsalz bringen, so tritt sogleich an allen Stellen, wo die Schwefelsäure mit dem Baryt zusammentritt, die Zersetzung ein; der Anfang ist zugleich das Ende der Zersetzung, in dem schwefelsauren Baryt verlieren dessen Bestandtheile alle weitere Wirkung.

Der in Fäulniss übergehende Körper durchläuft aber eine ganze Reihe von Veränderungen; in einem jeden Stadium derselben übt er eine gewisse Wirkung aus. Wenn in den Zuckertheilchen des Traubensaftes oder der Bierwürze eine Umlagerung und Spaltung seiner Elemente vor sich gegangen ist, so hört deren weitere Veränderung auf; aber in dem veränderten schwefel- und stickstoffhaltigen Bestandtheil, welcher sich in der Form von Hefe abgeschieden hat, dauert sie noch fort; wird die Hefe aus der gegohrenen Flüssigkeit herausgenommen und mit frischem Zuckerwasser in Berührung gebracht, so erleidet eine Anzahl von Zuckertheilchen eine gleiche Umsetzung, wie die in dem Traubensafte oder der Bierwürze vorhandenen, und diese Wirkung behält die Hefe, bis in ihren Elementen die Spaltung vollendet und ein Ruhezustand eingetreten ist. Wenn über diesen Zeitpunkt hinaus noch Zuckertheile übrig sind, so bleiben sie unzersetzt. Nach der Menge des vorhandenen Ferments richtet sich die Zeit der Zersetzung; durch eine doppelte oder dreifache Menge Ferment wird die Zeit verkürzt, oder es wird eine grössere Menge des gährungsfähigen Stoffes zersetzt.

Wenn man ein Gefäss mit Zuckerwasser durch eine Scheidewand von Filtrirpapier, welche leicht durchdringlich für die gelösten Zuckertheilchen ist, aber die Hefenkügelchen nicht durchlässt, in zwei Theile trennt, und den einen Theil mit Bierhefe versetzt, so findet nur in diesem die Gährung statt; nur da, wo sich Zuckertheilchen und Hefentheilchen berühren, tritt die Spaltung der ersteren in Alkohol und Kohlensäure ein.

Die Wirkung der Fermente auf gährungsfähige Stoffe ist der Wirkung der Wärme auf organische Substanzen ähnlich; die Zersetzung derselben in höheren Temperaturen ist stets die Folge eines Wechsels

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Justus von Liebig: Chemische Briefe. Leipzig und Heidelberg 1878, Seite 133. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Chemische_Briefe_Justus_von_Liebig_133.jpg&oldid=- (Version vom 18.8.2016)