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oder eine Milchzuckerlösung der Luft bei gelinder Wärme ausgesetzt, trocknen aus, die gelösten Stoffe scheiden sich in Krystallen ab, ohne irgend eine ihrer Eigenschaften verloren zu haben.

Die Untersuchung der Pflanzensäfte und der thierischen Flüssigkeiten, z. B. der Milch und Galle, des Traubensaftes, des Harn etc. zeigt, dass sich darin zweierlei Stoffe von ganz verschiedener Natur und Zusammensetzung befinden, ein Stoff, welcher der Fäulniss fähig ist, und neben diesem ein anderer, oder andere, welche für sich einer ähnlichen Selbstzersetzung vollkommen unfähig sind; wenn diese Flüssigkeiten, sich selbst überlassen, in Zersetzung übergehen, so tritt die merkwürdige Erscheinung ein, dass beide, der fäulnissfähige sowohl wie der für sich der Fäulniss unfähige Stoff, gleichzeitig verschwinden, indem sie in neue Producte zerfallen; der letztere würde sich ohne den ersteren unverändert erhalten haben.

Lässt man einen der Fäulniss fähigen Stoff in Fäulniss übergehen, Kässtoff z. B. oder Fibrin, Blut oder thierischen Schleim, und setzt man demselben in diesem Zustande Zuckerwasser, Milchzucker, Harnstoff etc. zu, so gehen diese in Gährung, d. h. in Zersetzung über.

Es ist aus diesen Erscheinungen offenbar, dass fäulnissfähige Substanzen im Zustande der Fäulniss, in Berührung gebracht mit einer grossen Anzahl stickstofffreier und stickstoffhaltiger Stoffe, die für sich der Fäulniss unfähig sind, eine Aenderung in der Zusammensetzung dieser letzteren bewirken. Man wird jetzt den Unterschied von Fäulniss und Gährung leicht verständlich finden.

Alle der Fäulniss unfähigen Materien heissen gährungsfähig, wenn sie die Eigenschaft besitzen, in Berührung mit faulenden Stoffen eine Zersetzung zu erleiden; der Process ihrer Zersetzung heisst jetzt Gährung; der faulende Körper, durch welchen derselbe bedingt ist, empfängt jetzt den Namen Ferment.

Alle der Fäulniss fähigen Materien werden im Zustand der Fäulniss zu Fermenten, d. h. sie erlangen in diesem Zustande das Vermögen, irgend einen der Gährung fähigen Körper in Gährung überzuführen, und diese Wirkung behält das Ferment, bis dessen Fäulniss vollendet ist.

Die Veränderungen, welche gährende Materien erleiden, beruhen auf einem Auseinanderfallen eines sehr zusammengesetzten Atoms in zwei oder mehrere einfacher zusammengesetzte Atome; die in dem Zuckeratom enthaltenen sechsunddreissig einfachen Atome spalten sich in vier Kohlensäureatome, welche zwölf, und in zwei Alkoholatome, welche vierundzwanzig einfache Atome enthalten. Der in der süssen Milch enthaltene Milchzucker verwandelt sich beim Sauerwerden derselben in zwei Milchsäureatome, worin die nämliche Anzahl von Elementen, wie in einem Milchzuckeratom, sich befindet.

Da den Milchzuckeratomen, welche in Milchsäureatome übergegangen sind, kein fremdes Element hinzugekommen und keines ihrer Elemente ausgetreten ist, so ist ganz gewiss, dass die eingetretene Umwandlung in den Eigenschaften des Milchzuckeratoms auf einem Wechsel in der Lage oder des Ortes seiner Atome beruht; in dem Milchsäureatom sind sie auf eine andere Weise geordnet enthalten. Durch die Ursache, welche die Verwandlung bewirkte, wurden offenbar die Atome des Milchzuckers

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Justus von Liebig: Chemische Briefe. Leipzig und Heidelberg 1878, Seite 132. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Chemische_Briefe_Justus_von_Liebig_132.jpg&oldid=- (Version vom 18.8.2016)