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Die Ameisensäure und das Bittermandelöl sind Jedermann bekannt; beide verbinden sich mit einander zu der Mandelsäure, welche in ihrem Verhalten als Säure ganz vollkommen der Ameisensäure gleicht, ohne irgend eine Eigenschaft des Bittermandelöls zu besitzen. Die Ameisensäure behielt, das Bittermandelöl verlor in der Mandelsäure seinen chemischen Charakter. Diese so wie die ganze Classe der ihr ähnlichen Verbindungen spielen, obwohl aus zwei zusammengesetzten Körpern entstanden, ganz die Rolle von einfachen organischen Verbindungen, d. h. von solchen, die wir nicht in einfachere zerlegen und wieder zusammensetzen können. Um sie von anderen zu unterscheiden, hat man ihnen den Namen gepaarte Verbindungen und dem Bestandtheil, dessen Eigenschaften verschwinden, den Namen Paarling gegeben. In diesem Sinne ist Bittermandelöl der Paarling der Mandelsäure. Aehnlich wie diese, denkt man sich alle oder die meisten höheren organischen Verbindungen entstanden, und man rechnet das Albumin, den Käsestoff, die organischen Basen zu den gepaarten Verbindungen, was sie gewiss sind, obwohl man mit einiger Sicherheit die Paarlinge nicht kennt oder zu bezeichnen weiss.

Wir können durch Paarung von Stickstoffverbindungen, von Blausäure oder Ammoniak mit stickstofffreien und stickstoffhaltigen Körpern Verbindungen erzeugen, welche alle Eigenschaften der in der Natur vorkommenden stickstoffhaltigen Säuren und Farbstoffe besitzen. Das in den Spargeln und Keimen der Leguminosen und vieler anderer Pflanzen vorkommende Asparagin stellt äpfelsaures Ammoniak dar, von dem sich die Elemente des Wassers getrennt haben; wir sind im Stande, aus Aepfelsäure und Ammoniak die aus dem Asparagin entspringende Asparaginsäure darzustellen. Durch Aufnahme von Ammoniak in die Elemente des farblosen krystallisirten Orcins entsteht bei Gegenwart von Sauerstoff das prachtvoll rothe Orcein. Die bewundernswürdigen Untersuchungen von Wurtz und Hofmann haben gezeigt, dass jedes einzelne von den in dem Ammoniak enthaltenen Wasserstoffatomen ausscheidbar und vertretbar ist durch zusammengesetzte organische Atome, dass in dieser Weise Verbindungen gebildet werden, in welchen das Ammoniak seinen chemischen Charakter vollkommen behält. Das Ammoniak neutralisirt die Säuren und bildet damit Salze; die durch Vertretung seines Wasserstoffs entstehenden Körper sind organische Basen, ganz ähnlich in ihrem chemischen Verhalten dem Chinin und Morphin.

Die allgemeinsten Erfahrungen geben zu erkennen, dass alle organischen Wesen nach ihrem Tode die Veränderung erleiden, in deren Folge ihre Leiber von der Oberfläche der Erde allmählich verschwinden; von dem stärksten Baum ist nach seiner Fällung, in Folge der Einwirkung der Atmosphäre in 36 bis 40 Jahren nur die Rinde übrig; Blätter, junge Zweige, das Stroh, welches den Feldern als Dünger zugeführt wird, saftreiche Früchte verschwinden weit schneller; in noch kürzerer Zeit verlieren Theile von Thieren ihren Zusammenhang, sie verflüchtigen sich in der Luft, ohne etwas anderes als die unorganischen Elemente zu hinterlassen, welche von der Erde stammen.

Dieser grosse Naturprocess der Auflösung aller in den Organismen entstandenen Verbindungen tritt sogleich nach dem Tode ein, wenn die mannichfaltigen Ursachen nicht mehr thätig sind, unter deren Herrschaft

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Justus von Liebig: Chemische Briefe. Leipzig und Heidelberg 1878, Seite 129. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Chemische_Briefe_Justus_von_Liebig_129.jpg&oldid=- (Version vom 18.8.2016)