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Sechszehnter Brief.


Weder die Wärme, noch die elektrische Kraft, noch die Lebenskraft sind vermögend, die Theilchen zweier ungleichartigen Materien in eine Gruppe zusammenhängend zu machen, zu einer Verbindung zu vereinigen; dies vermag nur die chemische Kraft.

Ueberall in der organischen Natur, in allen Verbindungen, welche in dem lebendigen Thier- und Pflanzenorganismus erzeugt werden, begegnen wir den nämlichen Gesetzen, beobachten wir die nämlichen festen und unveränderlichen Verbindungsverhältnisse, wie in der anorganischen.

Die Gehirn-, die Muskelsubstanz, die Bestandtheile des Blutes, der Milch, der Galle etc. sind zusammengesetzte Atome, deren Bildung und Bestehen auf der zwischen ihren kleinsten Theilchen thätigen Verwandtschaft beruht. Es ist die Verwandtschaft und keine andere Kraft, welche ihr Zusammentreten bewirkt; von dem lebendigen Körper getrennt, dem Einfluss der Lebenskraft[1] entzogen, sind es die chemischen Kräfte allein, welche ihr ferneres Bestehen bedingen; von ihnen hängt, je nach ihrer Richtung und Stärke, die Grösse oder Schwäche des Widerstandes ab, den sie äusseren Ursachen der Störung, äusseren Kräften, welche die chemische Anziehung aufzuheben streben, entgegensetzen. Aber Licht, Wärme, Lebenskraft, die Schwerkraft üben einen ganz entscheidenden Einfluss auf die Anzahl der einfachen Atome, die zu einem zusammengesetzten Atome sich vereinigen, und auf die Art und Weise ihrer Lagerung aus; sie bedingen die Form, die Eigenschaften, die Eigenthümlichkeit der Verbindungen, eben weil ihnen die Fähigkeit zukommt, ruhenden Atomen Bewegung mitzutheilen und durch Widerstand Bewegungen zu vernichten.

Licht, Wärme, Lebenskraft, die elektrische, die magnetische Kraft[2], die Schwerkraft äussern sich als Kräfte der Bewegung und des Widerstandes und ändern als solche die Richtung und Stärke der chemischen Kraft, sie sind fähig sie zu erhöhen, zu vermindern oder zu vernichten.

Die blosse mechanische Bewegung reicht hin, um der Cohäsionskraft krystallisirender Körper eine bestimmte Richtung zu geben, und die der Verwandtschaft in chemischen Verbindungen zu ändern. Wir können Wasser in völliger Ruhe weit unterhalb den Gefrierpunkt erkälten, ohne dass es krystallisirt; die Berührung mit der Spitze einer Nadel reicht in diesem Zustande hin, um es durch die ganze Masse in einem Augenblick zu Eis erstarren zu machen. Um Krystalle zu bilden, müssen die kleinsten Theilchen sich in Bewegung befinden, sie müssen ihren Ort,

  1. Das Wort Lebenskraft bezeichnet in dem gegenwärtigen Zustande der Wissenschaft keine Kraft für sich, wie man sich etwa die Elektricität, den Magnetismus denken kann, sondern es ist ein Collectivname, welcher alle die Ursachen in sich begreift, von denen die vitalen Eigenschaften abhängig sind. In diesem Sinne ist der Name Lebenskraft eben so richtig und gerechtfertigt, wie der Name und Begriff des Wortes Verwandtschaftskraft, womit man die Ursachen der chemischen Erscheinungen bezeichnet, von der wir aber nicht im Geringsten mehr wissen, als von der Ursache oder den Ursachen, welche die vitalen Erscheinungen bedingen.
  2. WS: korrigiert, im Original: Kraf
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Justus von Liebig: Chemische Briefe. Leipzig und Heidelberg 1878, Seite 122. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Chemische_Briefe_Justus_von_Liebig_122.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)