Seite:De Chemische Briefe Justus von Liebig 113.jpg

Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.


zusammentreten; in allen diesen Verbindungen ist die procentische Zusammensetzung absolut gleich, und dennoch müssen die chemischen Eigenschaften verschieden sein; denn wir haben in diesem Falle zusammengesetzte Atome, von welchen das eine zwei, das andere vier, das dritte acht oder sechszehn einfache Atome enthält.

Eine Menge der schönsten Beobachtungen entwickelten sich aus diesen Entdeckungen, eine Menge Geheimnisse entschleierten sich auf die natürlichste Weise. So hat man in dem Amorphismus einen neuen Begriff gewonnen, mit dem man einen eigenthümlichen Zustand bezeichnet, welcher der Krystallisation entgegengesetzt ist. In einem krystallisirenden Medium beobachtet man eine unaufhörliche Bewegung; wie wenn die kleinsten Theile Magnete wären, stossen sie sich nach einer Richtung ab, nach einer anderen ziehen sie sich an und lagern sich neben einander; sie gestalten sich zu einer regelmässigen Form, welche unter gleichen Verhältnissen sich niemals ändert. Dies geschieht aber nicht immer, wenn sie aus dem flüssigen oder Gaszustand übergehen in den Zustand eines festen Körpers. Zur Krystallbildung gehört Bewegung und Zeit. Wenn wir einen flüssigen oder gasförmigen Körper zwingen, plötzlich fest zu werden, wenn wir seinen Theilchen nicht Zeit lassen, sich in den Richtungen zu lagern, in denen ihre Anziehung (Cohäsionskraft) am stärksten ist, so werden sie keine Krystalle bilden; der festgewordene Körper wird das Licht anders brechen, eine andere Farbe, Härte und einen verschiedenen Zusammenhang haben. So kennen wir einen rothen und einen kohlschwarzen Zinnober, einen festen, harten und einen durchsichtigen, weichen, in lange Fäden ziehbaren Schwefel, das Glas im Zustande eines undurchsichtigen, milchweissen Körpers, der so hart ist, dass er am Stahl Funken giebt, und im gewöhnlichen durchsichtigen Zustande mit muscheligem Bruch.

Diese in ihren Eigenschaften so unähnlichen Zustände sind in dem einen Falle bedingt durch eine regelmässige, in dem anderen durch eine regellose Lagerung der Atome; der eine Körper ist amorph, der andere krystallisirt.

Alles, was auf Cohäsionskraft Einfluss hat, muss die Eigenschaften der Körper bis zu einem gewissen Grad ändern. In der Kälte krystallierter kohlensaurer Kalk besitzt die Krystallform, die Härte und das Lichtbrechungsvermögen des Kalkspaths; in der Wärme krystallisirt, besitzt er die Form und Eigenschaften des Arragonits.

Der Isomorphismus zuletzt, die Gleichheit der Form vieler chemischen Verbindungen bei einer ähnlichen Zusammensetzung, Alles scheint darauf hinzuweisen, dass die Materie aus Atomen bestehe, deren Anordnung oder Lagerung die Eigenschaften der Körper bedingt.

Eisen und Mangan, Kobalt und Nickel, Platin und Iridium kommen beinahe immer mit einander in denselben Mineralien vor, sie haben eine Menge Eigenschaften mit einander gemein und besitzen ganz dasselbe Atomgewicht. Die Atomgewichte des Chlors und Jods zusammenaddirt und dividirt durch 2, geben sehr nahe das Atomgewicht des Broms, was in Beziehung auf seine physikalischen und chemischen Eigenschaften zwischen beiden steht; in gleicher Weise erhält man in der Mittelzahl der Atomgewichte von Kalium und Lithium sehr nahe das Atomgewicht des Natriums.

Empfohlene Zitierweise:
Justus von Liebig: Chemische Briefe. Leipzig und Heidelberg 1878, Seite 113. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Chemische_Briefe_Justus_von_Liebig_113.jpg&oldid=- (Version vom 17.8.2016)