Seite:De Chemische Briefe Justus von Liebig 111.jpg

Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.


Die kraft- und wärmeerzeugenden Bestandtheile der Nahrung der Menschen und Thiere erzeugen sich in der lebenden Pflanze nur unter dem Einfluss und der Mitwirkung des Sonnenlichts; in ihnen sind die Strahlen der Sonne latent geworden, ähnlich wie die strömende Elektricität in dem durch die Wasserzersetzung erzeugten Wasserstoff.

In den Nahrungsstoffen empfängt der Mensch seinen Leib und täglich in seiner Speise eine Summe von aufgespeicherter, der Sonne entliehener Kraft und Wärme, welche wieder zum Vorschein kommen und wirksam werden, wenn sie in dem Lebensprocess andernorts wieder werden, was sie waren, wenn die belebten Gebilde wieder in ihre ursprünglichen Elemente zerfallen.

Zu dem unzerstörbaren Kraftvorrath unsers Erdkörpers kommt täglich in den Strahlen der Sonne ein Ueberschuss hinzu, welcher Leben und Bewegung erhält, und so stammt denn Alles, was besser ist in uns als das irdene Gefäss – unser Leib – von weiter her, und auch von diesem geht zuletzt kein Stäubchen je verloren.



Vierzehnter Brief.


Die Form und Beschaffenheit, in welcher die Körper dem leiblichen Auge erscheinen, die Farbe, Durchsichtigkeit, Härte etc., ihre sogenannten physikalischen Eigenschaften sind lange als abhängig betrachtet worden von der Natur ihrer Elemente oder ihrer Zusammensetzung. Ein und derselbe Körper konnte vor wenigen Jahren nicht in zweierlei Zuständen gedacht werden, und es war gewissermassen als Grundsatz angenommen worden, dass zwei Körper einerlei Eigenschaften nothwendig besitzen müssen, welche die nämlichen Elemente in einerlei Gewichtsverhältniss enthielten. Wie wäre es sonst möglich gewesen, dass die geistreichsten Philosophen die chemische Verbindung als eine Durchdringung, die Materie als unendlich theilbar sich denken und eine solche Ansicht vertheidigen konnten. Eine Durchdringung der Bestandtheile bei der Entstehung einer chemischen Verbindung setzt voraus, dass sich an einem und demselben Orte die Bestandtheile a und b befinden; ungleiche Eigenschaften bei gleicher Zusammensetzung waren hiernach nicht möglich.

Wie alle naturphilosophischen Ansichten der verflossenen Zeit, so fiel auch diese, ohne dass sich nur Jemand die Mühe nahm, sie aufrecht zu erhalten. Die Gewalt der Wahrheit, so wie sie aus der Beobachtung hervorgeht, ist unwiderstehlich. Man entdeckte in der organischen Natur eine Menge von Verbindungen, welche bei gleicher Zusammensetzung höchst ungleiche Eigenschaften besitzen; sie haben den Namen

Empfohlene Zitierweise:
Justus von Liebig: Chemische Briefe. Leipzig und Heidelberg 1878, Seite 111. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Chemische_Briefe_Justus_von_Liebig_111.jpg&oldid=- (Version vom 17.8.2016)