Seite:De Chemische Briefe Justus von Liebig 087.jpg

Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.


durch die es gelingt, die Körper in ihrem Entstehungszustand auf einander wirken zu lassen, ist eines der wichtigsten Erfordernisse der Kunst, chemische Verbindungen überhaupt hervorzubringen.

Man hat gefunden, dass eine Menge anderer Körper dieselben Eigenschaften wie das Platin, wiewohl in geringerem Grade besitzen; selbst gepulvertes Porcellan oder gewöhnlicher Bimsstein bringen die Verbindung des Wasserstoffs und Sauerstoffs zu Wasser, die der schwefligen Säure mit Sauerstoff zu Schwefelsäure in Temperaturen zuwege, in denen sich diese Körper sonst nicht vereinigen.

Eine Menge von Erscheinungen, die bis dahin völlig unerklärlich geblieben waren, haben durch die Entdeckung dieses Verhaltens fester und namentlich poröser Körper die schönste und befriedigendste Erklärung gefunden. Die Verwandlung des Weingeistes in Essig, unsere jetzige Schnellessigfabrikation, gewiss einer der wichtigsten Zweige der landwirthschaftlichen Fabrikation – sie beruht heutzutage auf den Grundsätzen, zu denen man durch das genaue Studium der erwähnten Eigenschaften gelangt ist.



Elfter Brief.


Die Fabrikation der Soda aus gewöhnlichem Kochsalz kann als Grundlage des ausserordentlichen Aufschwunges betrachtet werden, welchen die moderne Industrie nach allen Richtungen genommen hat; sie wird Ihnen, hoffe ich, ein belehrendes Beispiel des innigen Zusammenhanges gewähren, welcher die verschiedensten Zweige der Industrie und des Handels unter einander und wiederum mit der Chemie verbindet.

Die Soda oder ihr Hauptbestandtheil, das Natron, dient in Frankreich seit undenklichen Zeiten zur Bereitung der Seife und des Glases, zweier Producte der chemischen Industrie, durch welche an und für sich schon sehr grosse Capitalien in Bewegung gesetzt werden.

Die Seife ist ein Massstab für den Wohlstand und die Cultur der Staaten. Diesen Rang werden ihr freilich die Nationalökonomen nicht zuerkennen wollen; allein nehme man es im Scherz oder Ernst, so viel ist gewiss, man kann bei Vergleichung zweier Staaten von gleicher Einwohnerzahl mit positiver Gewissheit denjenigen für den reicheren, wohlhabenderen und cultivirteren erklären, welcher die meiste Seife verbraucht; denn der Verkauf und Verbrauch derselben hängt nicht von der Mode, nicht von dem Kitzel des Gaumens ab, sondern von dem Gefühl des Schönen, des Wohlseins, der Behaglichkeit, welches aus der Reinlichkeit entspringt. Wo dieser Sinn neben den Anforderungen anderer Sinne berücksichtigt und genährt wird, da ist Wohlstand und Cultur zugleich.

Die Reichen des Mittelalters, welche mit wohlriechenden kostbaren Specereien die üble Ausdünstung ihrer Haut und Kleider, die niemals mit Seife in Berührung kamen, zu ersticken wussten, trieben im Essen und Trinken, in Kleidern und Pferden grösseren Luxus als wir; aber

Empfohlene Zitierweise:
Justus von Liebig: Chemische Briefe. Leipzig und Heidelberg 1878, Seite 87. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Chemische_Briefe_Justus_von_Liebig_087.jpg&oldid=- (Version vom 17.8.2016)