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neuere Chemie weder etwas absolut Festes, noch Flüssiges, noch Luftförmiges anerkennt. In dem stärksten Feuer unserer Oefen kann zwar Thonerde oder Bergkrystall nicht geschmolzen werden, allein wie Wachs schmelzen sie in der Hitze des Knallgasgebläses, und von den 28 Gasen kennt man 25 in der Form von Flüssigkeiten, 9 davon sogar in der Form von festen Körpern.

Das Boyle’sche Gesetz, bis dahin für alle Gase als wahr angenommen, verlor seine allgemeine Gültigkeit. Nicht bei allen Gasen nimmt das Volumen ab in dem nämlichen Verhältniss, als der Druck, durch den man sie comprimirt, zunimmt; die meisten freilich nehmen unter doppeltem, dreifachem Druck nur die Hälfte oder ein Drittel ihres früheren Raumes ein; aber schon bei vierfachem Druck ist bei dem schwefligsauren Gas, bei dem Cyangas, die Raumverminderung dem Druck nicht mehr entsprechend, sie ist weit grösser. Auf ⅙ seines Volumens bei gewöhnlichem Luftdruck comprimirt, hört das Ammoniakgas, und auf 1/36 zusammengepresst, hört das kohlensaure Gas auf, dem Boyle’schen Gesetze zu folgen. Diesen Pressionen ausgesetzt, verliert ein Theil dieser Gase seine Luftform, sie nehmen die Gestalt von tropfbaren Flüssigkeiten an, die im Moment, wo der Druck abnimmt, sich wieder vergasen.

Die Apparate, deren sich der Entdecker [1] bediente, um die Gase in flüssigen Zustand zu versetzen, sind bewunderungswürdig durch ihre Einfachheit: ein künstlich hervorgebrachter hoher Kältegrad oder eine einfache Glasröhre, knieförmig gebogen, ersetzte ihm die kräftigsten Compressionsmaschinen. In einer offenen Glasröhre erhitzt, zerlegt sich Cyanquecksilber in Cyangas und metallisches Quecksilber; in einer an beiden Enden hermetisch geschlossenen Röhre geht die Zersetzung durch die Hitze nach wie vor von Statten, allein das Cyangas kann nicht entweichen, es findet sich in einem Raum eingeschlossen, welcher mehrere hundertmal kleiner ist als der Raum, den es bei offener Röhre, unter dem gewöhnlichen Luftdruck einnehmen würde; die natürliche Folge davon ist, dass der bei weitem grösste Theil des Gases bei schwacher Abkühlung an dem nicht erhitzten Theil flüssigen Zustand annimmt.

Wir übergiessen in einem offenen Gefässe ein kohlensaures Salz mit Schwefelsäure, und sehen das kohlensaure Gas unter Aufbrausen entweichen; diese Zersetzung in einem hinreichend starken, verschlossenen Gefässe vorgenommen, liefert flüssige Kohlensäure. Unter einem Druck von 36 Atmosphären abgeschieden ist die Kohlensäure nicht gasförmig, sondern tropfbar flüssig.

Jedermann hat durch die Zeitungen Kenntniss von den merkwürdigen Eigenschaften dieser flüssigen Kohlensäure erhalten. Ein dünner Strahl derselben, den man in die Luft ausströmen lässt, nimmt mit ausserordentlicher Schnelligkeit seinen früheren Gaszustand wieder an und der sich vergasende Theil entzieht dem flüssig gebliebenen eine so grosse Menge Wärme, dass dieser zu einem weissen Schnee erstarrt. Man hielt in der That anfänglich diese krystallinische Substanz für wirklichen Schnee, für in der Luft erstarrten Wasserdampf; allein die nähere Untersuchung

  1. Faraday.
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Justus von Liebig: Chemische Briefe. Leipzig und Heidelberg 1878, Seite 80. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Chemische_Briefe_Justus_von_Liebig_080.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)