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angestellter Analysen, die sich denn freilich nicht von selbst zu dem wichtigen Gesetz zusammengestellt haben. Das Gesetz wurde erschlossen und entdeckt durch den Scharfsinn eines Deutschen, und der Name Richter wird so unvergänglich sein, wie die Wissenschaft selbst.



Siebenter Brief.


Man wird sich leicht denken können, dass die Frage nach dem Warum, nach der Ursache dieser festen, unveränderlichen Gewichte, den philosophischen Geist der Chemiker beschäftigen musste. Es muss eine Ursache geben, welche das Zusammentreten der Elemente in anderen Verhältnissen unmöglich macht, welche einer Verkleinerung oder Vergrösserung derselben ein unüberwindliches Hinderniss entgegensetzt. Die festen Verhältnisse sind die äusseren Merkmale dieser Ursache, allein mit denselben ist das Gebiet der Forschung begrenzt, sie selbst ist nicht sinnlich wahrnehmbar und kann nur Gegenstand der Speculation, des geistigen Vorstellungsvermögens sein.

Wenn ich es versuchen werde, die Ansicht zu entwickeln, welche in diesem Augenblick über die Ursache der chemischen Proportionen herrschend geworden ist, so muss man nicht vergessen, dass ihre Unwahrheit oder Wahrheit mit dem Gesetze selbst nicht das Geringste zu thun hat; dieses letzte bleibt als ein Ausdruck der Erfahrung immer wahr und ändert sich nicht, wie sich auch die Vorstellungen über den Grund ändern mögen.

Eine sehr alte Vorstellung über die Natur der Materie, die sogenannte atomistische, eignet sich in der That vortrefflich zum sinnlichen Verständniss der chemischen Proportionen; sie setzt nämlich voraus, dass in einem Raum, den ein fester, flüssiger oder luftförmiger Körper einnimmt, nicht alle Theilchen des Raumes mit fester Masse, mit Materie ausgefüllt seien, sondern dass ein jeder Körper Poren habe, nicht etwa wie bei einem Stücke Holz, an dem sie sichtbar sind, sondern unendlich viel kleiner. Ein Körper besteht nach dieser Ansicht aus sehr kleinen Körpertheilchen, die sich in einer gewissen Entfernung von einander befinden; zwischen je zwei Theilchen ist also ein, nicht durch die Materie des Körpers ausgefüllter Raum vorhanden.

Die Wahrscheinlichkeit dieser Idee ist in die Augen fallend; wir können ein Volumen Luft in einen tausendmal kleineren Raum zusammenpressen, und auch feste und flüssige Körper nehmen unter der Gewalt eines mechanischen Druckes einen kleineren Raum ein. Eine Billardkugel, mit einiger Kraft auf einen harten Körper geworfen, plattet sich ab und nimmt nach dem Abspringen die Kugelform wieder an. Alle Körper nehmen beim Erwärmen einen grösseren, beim Erkalten einen kleineren Raum ein.

Es ist aus diesen wohlbekannten Erfahrungen leicht ersichtlich, dass der Raum, den ein Körper gerade einnimmt, von zufälligen Umständen

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Justus von Liebig: Chemische Briefe. Leipzig und Heidelberg 1878, Seite 65. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Chemische_Briefe_Justus_von_Liebig_065.jpg&oldid=- (Version vom 17.8.2016)