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des Schmieds; während das Eisen in der Hitze das Feuer nicht verlässt, verwandelt sich das Quecksilber unter denselben Umständen in einen unsichtbaren Dampf; seine Theile erhalten durch die Wärme das Vermögen, Gaszustand anzunehmen; die Fähigkeit eines Körpers, Gaszustand anzunehmen, beruht nun auf dem Vermögen oder Streben seiner Theile, sich abzustossen, sich von einander zu entfernen, und dieses Streben behaupten die Körper in ihren chemischen Verbindungen. Das Quecksilber besitzt die Fähigkeit, zu verdampfen, schon bei gewöhnlicher Temperatur; ein Tropfen Quecksilber verdampft allmählich in der Luft, er braucht hierzu längere Zeit, als ein Wassertropfen, allein er verschwindet nach und nach. Der Zinnober verdampft unter diesen Umständen nicht, was offenbar darauf beruht, dass dem Streben des Quecksilbers im Zinnober, Luftform anzunehmen und sich von den Schwefeltheilchen loszureissen oder zu entfernen, ein Widerstand entgegenwirkt, und dies ist die chemische Verwandtschaft des Schwefels; es ist dies ein Widerstand, der durch schwache Wärmegrade nicht überwunden wird. Wird nun der Zinnober auf den Punkt erhitzt, auf welchem das Quecksilber luftförmig wird, so wird nicht nur die Verwandtschaft zwischen Schwefel und Quecksilber geschwächt, sondern auch das Streben des Quecksilbers, sich von den Schwefeltheilchen loszureissen, wird dadurch erhöht. Kommt jetzt der Wärme eine, wenn auch nur schwache Verwandtschaft zu Hülfe, die des Eisens z. B. zum Schwefel, so erfolgt eine Trennung desselben vom Quecksilber, die ohne das Zusammenwirken dieser verschiedenen Ursachen unter denselben Umständen nicht erfolgt wäre.

So spielt denn das Streben eines Körpers, in gewissen Temperaturen Luftform anzunehmen, eine wichtige Rolle in allen Zersetzungs- und Verbindungsprocessen des Chemikers, es ändert, erhöht oder vermindert die Aeusserung der Verwandtschaft.

In ganz ähnlicher Weise nimmt die Fähigkeit der Theilchen eines Körpers, ihren Zusammenhang zu behaupten gegen alle Ursachen, die ihn zu vernichten streben, Antheil an dem Spiele der Verwandtschaft. Wir können durch die Hitze den Zucker, das Kochsalz schmelzen, ihre Theile leicht beweglich nach allen Richtungen hin machen, ihren festen Zustand aufheben und vernichten. Dasselbe können wir durch Wasser; in dem Wasser, in welchem Zucker und Kochsalz schmelzen, ist es nicht die Wärme, sondern die chemische Verwandtschaft des Wassers, wodurch ihr Streben, zusammenhängend zu bleiben, aufgehoben wird.

Ein Stück von einem weissgebrannten Knochen ist unlöslich in Wasser und alkalischen Flüssigkeiten, das Streben seiner Theile, ihren Zustand zu behaupten, oder, wie man in diesem Falle sagt, ihre Cohäsionskraft, ist grösser als die Verwandtschaft der Flüssigkeit. Die Bestandtheile desselben lösen sich, jeder für sich, im Wasser. In einer Menge saurer Flüssigkeiten, z. B. in Essig, lösen sich beide auf. Es ist mithin einleuchtend, dass wenn wir die Bestandtheile dieses Knochenstückes (Phosphorsäure und Kalk) in einer sauren Flüssigkeit mit einander zusammenbringen, wir keine Art von Veränderung eintreten sehen, weil beide, gleichgültig in welcher Form, in der sauren Flüssigkeit löslich sind; bringt man aber beide in Wasser gelöst zusammen, welches der Vereinigung ihrer Bestandtheile zu einem festen Körper kein Hinderniss

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Justus von Liebig: Chemische Briefe. Leipzig und Heidelberg 1878, Seite 58. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Chemische_Briefe_Justus_von_Liebig_058.jpg&oldid=- (Version vom 17.8.2016)