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Die Ausdehnung durch Wärme setzt voraus, dass die Theilchen eines Körpers sich von einander entfernen, die Zusammenziehung durch Kälte, dass sie sich einander nähern. Da nun eine gewisse Nähe der Theilchen eine nothwendige Bedingung zur Aeusserung der chemischen Verwandtschaft ist, so ist leicht einzusehen, dass durch die blosse Wirkung der Hitze eine Menge chemischer Verbindungen in ihre Bestandtheile zerfallen müssen, und zwar stets in dem Falle, wo durch die Wärme die Entfernung ihrer Theilchen zuletzt grösser wird, als die Sphäre ihrer chemischen Anziehung ist. Hierdurch erfolgt nothwendig eine Trennung; nimmt die Hitze ab, so nähern sich die Theilchen wieder einander, und bei einer gewissen Nähe geht wieder eine Verbindung vor sich.

Wir können uns denken, dass in für uns unmessbaren hohen Temperaturen Körper sich in einem und demselben Raume befinden, ohne sich mit einander zu verbinden, obwohl sie die stärkste Verwandtschaft zu einander haben, eben weil die Wärme die Verwandtschaft aufhebt, ihrer Aeusserung einen Widerstand entgegensetzt.

So waren ohnstreitig die Bestandtheile des Erdkörpers zu einer Zeit, wo er eine ausserordentlich hohe Temperatur besass, in ganz anderer Weise geordnet, ja es ist nicht undenkbar, dass sie wie in einem Chaos durch einander schwammen, dass sich dieses Chaos zu den gegenwärtigen Mineralien und Gebirgsarten dann erst ordnete, als die Temperatur durch Abkühlung abnahm.

Denken wir uns alle Elemente des Erdkörpers durch den Einfluss einer grossen Hitze in den nämlichen Zustand versetzt, in welchem sich bei gewöhnlicher Lufttemperatur das Sauerstoff- und das Wasserstoffgas befindet, so würde die Erde eine ungeheure Kugel von lauter Gasen sein, die sich überall gleichförmig mischen würden, ohne eine Verbindung mit einander einzugehen, ganz so, wie dies beim Sauerstoff- und Wasserstoffgas trotz ihrer ausgezeichnet grossen Verwandtschaft, geschieht. Bei 350° verbindet sich das Quecksilber mit dem Sauerstoff der Luft zu einem rothen krystallinischen Pulver, bei 400° zerlegt sich dieses Pulver in Sauerstoffgas und Quecksilberdampf.

Wenn wir eine Mischung von Eisen und Blei mit Schwefel in einem Tiegel zusammenschmelzen, so trennt sich das Eisen vom Blei und verbindet sich mit dem Schwefel; so lange noch eine Spur Eisen in dem Blei ist, tritt kein Theilchen Schwefel an das Blei, sondern nur an das Eisen; ist alles Eisen an den Schwefel getreten, so vereinigt sich jetzt der Schwefel mit dem[1] Blei. Wie man leicht bemerkt, haben beide Metalle Verwandtschaft zu dem Schwefel, allein die des Eisens ist weit grösser, wie die des Bleies; daher kommt es denn, dass wenn, wie es im Grossen geschieht, das in der Natur vorkommende Schwefelblei (Bleiglanz) mit Eisen zusammengeschmolzen wird, sich das Blei im reinen metallischen Zustande abscheidet; das Eisen verbindet sich mit dem Schwefel, zu dem es eine weit grössere Verwandtschaft besitzt.

In ähnlicher Weise zerlegt das Eisen in der Glühhitze den Zinnober und treibt das Quecksilber aus, indem es sich mit dem Schwefel verbindet; allein in diesem Fall ist die Verwandtschaft des Eisens zum Schwefel nicht der einzige Grund der Zersetzung. Niemand hat bis jetzt Quecksilber im rothglühenden Zustande gesehen, wie Eisen, z. B. in der Esse

  1. WS: korrigiert, im Original: den
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Justus von Liebig: Chemische Briefe. Leipzig und Heidelberg 1878, Seite 57. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Chemische_Briefe_Justus_von_Liebig_057.jpg&oldid=- (Version vom 17.8.2016)