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Fünfter Brief.


Um eine klare Anschauung der wunderbaren Ordnung und Regelmässigkeit zu haben, in welcher die Körper Verbindungen eingehen, muss man sich daran erinnern, was der Chemiker mit Verbindung oder Zersetzung bezeichnet. Das Rosten des Eisens, das Bleichen der Farben an der Luft, die Ausbringung der Metalle aus ihren Erzen, die Darstellung von zahllosen Gegenständen des Handels und der Gewerbe, von Arzneien, kurz alle neuen Formen oder Erscheinungen, welche sich beim Zusammenbringen verschiedenartiger Körper den Sinnen darbieten, sie beruhen bis auf sehr wenige Ausnahmen auf einer chemischen Verbindung oder Zersetzung.

Die letzten Ursachen der neuen Formen und Erscheinungen sind die chemischen Kräfte, von allen andern dadurch unterschieden, dass wir ihre Existenz in ihren Aeusserungen nur bei unmittelbarer Berührung der Körper wahrnehmen; in einer jeden messbaren Entfernung äussern sie keine Art von Wirkung. Diese Classe von Erscheinungen begrenzt das Gebiet der Chemie; die Schwere, die elektrische, die magnetische Kraft, die Wärme haben Einfluss auf die chemischen Vorgänge, allein als Kräfte, die auf fernhin wirken, Bewegungen, Ortsveränderungen, überhaupt Naturerscheinungen bedingen, gehört die Ermittelung ihrer Natur und ihrer Gesetze im engeren Sinne der Physik an.

Das Eisen rostet an der Luft, Schwefel und Quecksilber werden zu Zinnober; es ist die chemische Kraft, die zwischen den Theilchen des Eisens und einem Bestandtheile der Luft, die zwischen den Theilchen des Schwefels und Quecksilbers thätig ist, durch welche der Wechsel ihrer Eigenschaften bewirkt wurde; sie ist die Ursache der Entstehung eines Körpers mit neuen veränderten Eigenschaften, einer chemischen Verbindung.

Aus Zinnober, den wir mit Eisen erhitzen, erhalten wir wieder Quecksilber; aus Eisenrost, den wir mit Kohle glühen, erhalten wir wieder metallisches Eisen; wir zersetzen den Zinnober durch Eisen, den Eisenrost durch Kohle; die Ursache ist immer die chemische Kraft, der Erfolg beruht stets auf der Bildung einer Verbindung; das Eisen, welches das Quecksilber ausschied, verbindet sich mit dem Schwefel, wir hatten Schwefelquecksilber und bekommen Schwefeleisen; die Kohle, welche aus dem Eisenrost metallisches Eisen wieder hervorgehen macht, sie geht mit dem Bestandtheile der Luft, den das Eisen beim Rosten aufgenommen hatte, eine Verbindung ein.

Die unendlich grosse Anzahl von chemischen Zersetzungen zusammengesetzter Körper, die Ausscheidung von einem seiner Bestandtheile, sie beruht stets darauf, dass ein neu hinzukommender Körper mit den übrigen Bestandtheilen eine Verbindung eingeht. Es ist einleuchtend, dass diese Körper unter den gegebenen Bedingungen keine Art von Wechsel in ihren Eigenschaften erfahren könnten, wäre zwischen ihren Theilchen nicht die Ursache thätig, die wir als chemische Kraft bezeichnen.

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Justus von Liebig: Chemische Briefe. Leipzig und Heidelberg 1878, Seite 55. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Chemische_Briefe_Justus_von_Liebig_055.jpg&oldid=- (Version vom 17.8.2016)