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der Natur und ihrer Kräfte steht, als die Iatrochemiker des 16. Jahrhunderts, der da weiss, dass Hunderte von Aerzten, die sich auf unseren Universitäten ausgebildet haben, Grundsätze für wahr halten, welche aller Erfahrung und dem gesunden Menschenverstande Hohn sprechen; Männer, welche glauben, dass die Wirkungen der Arzneien in gewissen Kräften oder Qualitäten lägen, die durch Reiben und Schütteln in Bewegung gesetzt und verstärkt, und auf unwirksame Stoffe übertragen werden könnten, welche glauben, dass ein Naturgesetz, das keine Ausnahme hat, unwahr sei für Arzneistoffe, indem sie annehmen, dass deren Wirksamkeit mit ihrer Verdünnung und Abnahme an wirksamem Stoff zuzunehmen fähig sei? Wahrlich, man wird zu der Meinung verleitet, dass die Medicin unter den Wissenschaften, welche die Erkenntniss der Natur und ihrer Kräfte zum Gegenstand haben, als inductive Wissenschaft die niedrigste Stelle einnimmt. Gleich wie der Landwirth von einem neuen Pflug, einer neuen Säemaschine, einem neuen Dünger, einer neuen Culturmethode sein Heil erwartet, obwohl diese Mittel, ohne die richtigen Grundsätze, seinen Reichthum nur vergeuden und ihn früher ärmer machen, als er ohne sie geworden, so sieht der Arzt in der Vervollkommnung der Technik den Fortschritt seiner Wissenschaft.

In einer neuen Arznei, einer neuen Heilmethode, in der Wiederherstellung einer imaginären Zusammensetzung des Blutes, des Harns sucht er nicht den hemmenden Stein zu beseitigen, sondern die Peitsche, welche der Fuhrmann braucht, um das Pferd mit seiner schweren Last wenn es nicht mehr fort kann, darüber hinweg zu bringen, und wenn die Natur sich hilft, so will er uns glauben machen, die Peitsche sei Kraft und Mittel gewesen, um die Gesundheit wieder herzustellen. Alle diese Dinge sind nützlich, vielleicht nothwendig; sie werden aber nicht benutzt, um die Schwierigkeit für alle, die nachkommen, hinwegzuräumen, sondern sie dienen, um auf die leichteste Weise in dem einzelnen Fall über sie hinweg zu kommen.

Was der Phantasie am nächsten liegt, wird als Brücke benutzt; kommt man glücklich hinüber, so lässt man sie hinter sich wieder zusammenfallen, anstatt ihr eine feste, dauernde Grundlage zu geben; gelingt es nicht, so ist die Unvollkommenheit der Wissenschaft daran Schuld.

Die Experimentirkunst schafft Werkzeuge, aber niemals ist durch Werkzeuge eine Summe von Erfahrungen zur Wissenschaft geworden.

Baumaterial ist in Fülle da, so dass man kaum den Grund sieht, auf welchem das Gebäude stehen soll, die Meister sind aber in Zwiespalt und über den Plan nicht klar. Der eine will das Haus aus Holz, der andere meint, es müsse Stein und Holz, der dritte, es dürfe nur aus Stein und Eisen sein. Zwei gehören jedenfalls zusammen, aber auch die drei würden, zweckmässig verbunden, ein treffliches Gebäude abgeben, wären die Handlanger nicht, die es aus Stroh und in die Luft bauen wollen; darum sind seit 2000 Jahren die Fundamente noch nicht fertig.

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Justus von Liebig: Chemische Briefe. Leipzig und Heidelberg 1878, Seite 54. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Chemische_Briefe_Justus_von_Liebig_054.jpg&oldid=- (Version vom 18.8.2016)