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hemmende Fesseln. Er hat den Instinct des richtigen Wegs, nicht das Bewusstsein. Er sucht ihn vergebens in der ihn umgebenden Wildniss; daher seine Widersprüche und seine Zerrissenheit. – Aber sein Wort giebt einem Jahrhundert die Richtung; „der wahre Gebrauch der Chemie“, sagt er, „ist nicht Gold zu machen, sondern Arzneien zu bereiten.“

Durch Paracelsus kam die Chemie aus den Händen der Goldköche in den Dienst der weit unterrichteteren und gebildeteren Aerzte, und da er und seine Nachfolger ihre Arzneien selbst bereiteten, so gehörten von da an chemische Kenntnisse und Bekanntschaft mit chemischen Operationen zu den wesentlichsten Erfordernissen des Arztes.

Im 16. und 17. Jahrhundert bewegten sich immer noch die Erklärungen um das Vorhandensein verborgener Qualitäten, bis erweiterte Erfahrungen zu der wichtigen Wahrheit führten, dass Eigenschaften und Materie thatsächlich nicht trennbar seien; für uns sind sie getrennt nicht mehr denkbar.

Noch lange nach Paracelsus glaubte man, dass die chemische Operation für das Arzneimittel dasselbe sei, was der Magen ist für die Speisen, aus denen das Blut entsteht. Durch dreimalige Sublimation des ätzenden Quecksilbersublimats mit metallischem Quecksilber stellte man den Calomel dar, durch neunmalige die Panacea Mercurialis.

Die begeistigenden Grundursachen Plato’s, welche nach ihm die vitalen Thätigkeiten bedingen, treten bei den Paracelsisten zu dem Archäus zusammen, der seinen Sitz im Magen hat und, mit allen Leidenschaften des Menschen begabt, die Verdauung, die Bewegungserscheinungen und die Seelenstimmung regiert.

Wenn man die gründliche Verachtung sich vergegenwärtigt, mit welcher die heutige Medicin auf die Ansichten von Paracelsus und seiner Nachfolger herabblickt, welche, ähnlich wie die Ideen der Alchemisten über Metallverwandlung, von Vielen als eine Geistesverwirrung bemitleidet werden, wenn man damit die gegenwärtigen Theorieen über die Ursachen der Krankheiten und die Heilmethoden vergleicht, so wird der Naturforscher in seinem Stolz auf die Errungenschaften des Geistes im Gebiete der Wahrheit gedemüthigt durch die tägliche Wahrnehmung von Widersprüchen, die man für unmöglich halten müsste, wenn sie in der Wirklichkeit nicht beständen. Denn noch heute beherrscht die Methode Galen’s und Paracelsus’ wie damals den Geist der meisten Aerzte: bis auf die Ausdrucksweise sind viele Ansichten dieselben geblieben. Der Archäus des 16. Jahrhunderts verwandelte sich im 18. und im Anfang des 19. Jahrhunderts in die Lebenskraft der Naturphilosophen, und noch heute lebt er in Manchem fort in dem Gewande der alles bedingenden Nervenkraft. Ueber den Standpunkt der theoretischen Medicin wird sich Niemand täuschen können, welcher in’s Auge fasst, dass sich in unserer Periode, in welcher die richtigen Grundsätze der Forschung klar und hell, gleich der Sonne, ihr Licht zu verbreiten scheinen, in der Heilwissenschaft eine für unsere Nachkommen kaum glaubliche Lehre zu entwickeln vermochte.

Wer kann behaupten, dass die Mehrzahl der unterrichteten und gebildeten Menschen unserer Zeit auf einer höheren Stufe der Erkenntniss

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Justus von Liebig: Chemische Briefe. Leipzig und Heidelberg 1878, Seite 53. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Chemische_Briefe_Justus_von_Liebig_053.jpg&oldid=- (Version vom 17.8.2016)