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Es ist demnach einleuchtend, dass, wenn dem luftförmig flüssigen Körper die Elementareigenschaft der Wärme durch Kälte entzogen wird, die Luft in Wasser, und in ähnlicher Weise durch Hitze das Wasser in Luft, durch Trockenheit das Wasser in Erde verwandelt werden kann.

Das Feuer schliesst nach Aristoteles in sich den Begriff der Helligkeit und Empfindung, das Wasser und die Luft der Durchsichtigkeit, die Erde der Dunkelheit. Die Farben entstehen durch Mischung von Feuer und Erde, d. h. von Helligkeit und Dunkelheit. Die Durchsichtigkeit des Bergkrystalls rührt vom Wasser her. (Die Durchsichtigkeit des Diamants heisst noch heute sein Wasser.) Aber auch der Hauptbestandtheil der Augen ist Wasser, wie die Luft die Grundlage des Gehörs, Luft und Wasser den Geruch, die Erde das Gefühl ausmachen. Der Geschmack wird durch die Feuchtigkeit vermittelt; je inniger sich die Geschmacktheile an die Zunge hängen, desto bitterer, je mehr sie sich auflösen, desto salziger ist der Körper; wenn aber die Geschmacktheile erhitzt werden und die Thei1e des Mundes wieder erhitzen, so entsteht der scharfe, wenn sie in Gährung gerathen und Blasen werfen, der saure Geschmack.

In allen diesen Fällen sieht man, dass die genaue und richtig erkannte physikalische Eigenthümlichkeit der auf die Sinne wirkenden Dinge stets als das Ursächliche oder Bedingende angesehen wird. Was man wahrnahm in der Wirkung, war die Ursache der Wirkung. Die Erklärung der Naturerscheinung war die Beschreibung ihrer Eigenthümlichkeit.

Diese Lehren der griechischen Philosophen wurden durch Galen die Grundlagen des ersten theoretischen Systems der Heilkunde.

Nach Galen entstehen alle Theile des organischen Körpers durch die Mischung der vier Elementarqualitäten in verschiedenen Verhältnissen; im Blute sind sie gleichmässig gemischt, im Schleim ist das Wasser, in der gelben Galle das Feuer, in der schwarzen die Erde vorwaltend. Auf dem Vorherrschen dieser vier Cardinalsäfte beruhen die vier Temperamente.

Die Gesundheit ist ein Gleichgewichts-Zustand, bedingt durch die richtige Beschaffenheit der gleichartigen Theile (der Organe) und der richtigen Mischung der Elemente. In der Krankheit sind die Verhältnisse gestört, sie ist ein widernatürlicher Zustand der Form oder Mischung.

In Folge des Missverhältnisses der Elementareigenschaften befinden sich die Säfte in zu erhitztem, gekältetem, gefeuchtetem, getrocknetem Zustande. Wenn ihre Bewegung stockt und die Ausdünstung gehemmt ist, so tritt eine Verderbniss der Säfte ein, es entstehen die verschiedenartigen Fieber. Die widernatürliche Fieberhitze ist eine Folge dieser Fäulniss. Durch Fäulniss des Schleims, der gelben oder schwarzen Galle, entsteht das alltägliche, drei- oder mehrtägige Fieber.

Auf den ihnen innewohnenden Grundeigenschaften beruht nach Galen gleichermassen die Wirksamkeit der Arzneien; sie sind heiss oder kalt, feucht oder trocken. Ein Mittel kann, je nach dem Verhältniss der Grundeigenschaft der Wärme, unmerklich, merklich, erwärmen, erhitzen oder heftig erhitzen, eine jede Qualität besitzt vier ähnliche Grade der Wirkung. Substanzen von brennendem Geschmack gehören zu den heissen, von kühlendem Geschmack zu den kalten Arzneimitteln.

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Justus von Liebig: Chemische Briefe. Leipzig und Heidelberg 1878, Seite 46. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Chemische_Briefe_Justus_von_Liebig_046.jpg&oldid=- (Version vom 18.8.2016)